Und dann der Himmel
das Vergangene beendet und eine Zukunft unmöglich erscheinen lässt, steht er auf und greift nach dem Seil. Er packt seine Hoffnungen und Träume zusammen wie ein Flüchtling seine letzten Habseligkeiten und geht mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk klappt er aus einer Nische in der Decke die schmale Leiter nach unten, steigt die Holztritte hinauf, öffnet die Luke und klettert auf den Dachboden. Nachdem er sich nach oben gezogen hat und aufrecht steht, sind Finns Hände schwarz vor Schmutz. Tastend sucht er nach der Strippe, mit deren Hilfe eine Glühbirne ihren fahlen Lichtschein auf den Dachboden wirft. Spinnweben hängen im Raum, in einer Ecke stehen die abgenutzten Urlaubskoffer seiner Eltern, ein blauer Plastik-Bollerwagen, in dem er als Kind Astronaut gespielt hat, und ein alter, verrußter Kohleofen, seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt. Die Luft ist kalt und frisch, das Dach ist schlecht isoliert und er hat die heruntergefallenen Ziegel noch immer nicht ersetzt.
Finn rückt den kaputten Rattanstuhl, den er bei der Inspizierung des Speichers entdeckt hat, etwas mehr nach rechts, bis er genau unter einem der Balken steht, die das Dach tragen. Es ist eine recht wackelige Angelegenheit, bis Finn sich auf den Stuhl gehievt und sein Gleichgewicht gefunden hat, denn er muss auf den Rahmen treten, weil die Sitzfläche durchgebrochen ist. Vorsichtig balancierend und noch immer unsicher streckt er die Arme über den Kopf und bindet das Seil mit einem festen Knoten an den Balken. Es ist eine anstrengende, schweißtreibende Arbeit, denn er kann den Balken nur erreichen, wenn er sich ganz lang macht. Aber das ist ja auch der Sinn der Sache. Finn verschnauft ein wenig, schüttelt seine schweren Arme aus. Dann knüpft er mit dem anderen Ende des Seils eine Schlinge und legt sie sich um den Hals. Fast kommt er sich ein wenig lächerlich vor, wie er dasteht, auf einem staubigen Speicher, die Füße auf einem Holzstuhl, bereit, sich das Leben zu nehmen. Was für ein armseliges Bild. Er hätte nie gedacht, dass er jemals zu so etwas fähig sein würde.
Gerade will er dem Stuhl einen kräftigen Tritt geben, als er laute Schritte und ein atemloses Keuchen die Holzleiter hinaufhasten hört. Ein Kopf mit dunklen, schulterlangen Haaren erscheint in der Bodenluke und dann das gerötete Gesicht eines Mannes, der nach Luft ringt und dabei Finn angrinst.
„O Gott“, bringt Rafael stöhnend hervor, „ich sollte wirklich das Rauchen ein wenig einschränken! Diese Last-Minute-Einsätze machen mich völlig fertig!“
Vor Schreck verlagert Finn sein Gewicht und der kaputte Stuhl beginnt zu knirschen. Rafael stürzt nach vorne und hält Finn an den Beinen fest. „Das war knapp“, sagt er.
„Wer bist du?“ fragt Finn, als er etwas sicherer steht. „Verschwinde! Ich bin beschäftigt!“ Schweißtropfen haben sich in den Bartstoppeln über seiner Oberlippe gebildet und er fährt nervös mit der Zunge über den Mund. Er hat sich schon am Balken baumeln sehen, und obwohl es genau das ist, was er erreichen möchte, ist es etwas anderes, wenn es statt geplant versehentlich passieren würde.
„Ach nein“, winkt Rafael ab, „nicht schon wieder. Lass uns die Einleitung einfach überspringen, Finn. Das Problematische an unserer Situation ist nämlich, dass ich mich schon mehrmals vorgestellt habe, bei verschiedenen … Gelegenheiten, du dich aber nie an mich erinnern kannst. Das ist auf die Dauer etwas lästig. Jedenfalls für mich.“ Er räuspert sich und fügt dann hinzu: „Rafael. Nenn mich Rafael.“
Finn weiß nicht, was er sagen soll. Merkwürdigerweise empfindet er gar keine Angst vor diesem Fremden, dabei ist er in sein Haus eingedrungen und könnte ein Einbrecher oder ein Psychopath sein. Eigentlich fühlt er sich eher gestört und würde gerne zu Ende bringen, was er gerade angefangen hat, schließlich hat er lange gebraucht, sich dazu durchzuringen, aber andererseits ist er auch froh, dass er unterbrochen wurde. Unschlüssig bleibt er auf dem Stuhl stehen. Nur die Schlinge um seinen Hals lockert er ein wenig, um besser atmen zu können. Von oben bis unten betrachtet er den Eindringling, der nur eine blaue Jogginghose trägt, die einer von Marco gleicht, bis sein Blick auf Rafaels Rücken hängen bleibt. „Sind das da Flügel?“ fragt er erstaunt.
„Ja“, antwortet Rafael geschäftig, hüpft auf den Kohleofen und macht es sich im Schneidersitz bequem, als hätte er vor, länger zu bleiben.
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