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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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…“, sage ich und bleibe wie angewurzelt stehen. In meinem Kopf hat sich ein Vakuum breit gemacht. Ich bin schon damit überfordert, das Bild, das sich mir darbietet, zu verarbeiten. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich zwei Dutzend verängstigter, wütender Heidschnucken mit gesenkten Hörnern auf mich zurollen ähnlich dem alljährlichen Stiertreiben in Pamplona, in meinen Ohren hallt das Donnern ihrer Hufe – und meine Gehirnzellen sind auf Tauchstation gegangen. Nicht ein vernünftiger Rettungsplan will mir einfallen. Stattdessen kann ich meinen Blick nicht von den zu Fratzen verzerrten Gesichtern reißen und spüre schon förmlich, wie mir ihre Hörner die Gedärme aufschlitzen. Ich bekomme weiche Knie und muss aufpassen, dass ich mir vor Angst nicht in die Hose pinkele.
    „Steh nicht so blöd da!“ schreit mich Sabine an, während sie zu mir zurücksprintet. „Spring zur Seite!“
    Aber ich bin wie gelähmt. Das erste Tier ist nur noch fünf Meter von mir entfernt, ich kann schon die feuchte, muffige Wolle seines Fells riechen, den heißen Atem aus seinen aufgeblähten Nüstern stieben sehen und die Mordlust in seinen Augen erkennen, als mir meine Schwester einen Stoß gibt und sich zusammen mit mir in den Dreck wirft. Instinktiv drehe ich mich auf den Bauch, presse das Gesicht in den Boden und versuche, mit den Armen meinen Hinterkopf zu schützen. Um mich herum bebt die Erde und jeden Moment erwarte ich, von Schafshufen zermalmt zu werden.
    Typisch! denke ich. Wenn man einen Schutzengel mal braucht, macht er gerade Mittagspause!
    Doch dann höre ich plötzlich in unmittelbarer Nähe eine Stimme. „Ruhig, meine kleinen Schäfchen, hoho, ganz ruhig!“ Und tatsächlich beruhigen sich die Heidschnucken eins nach dem anderen, die Panik in ihren Bewegungen verschwindet, sie werden langsamer und kommen schließlich ganz zum Stehen. Sabine und ich heben vorsichtig die Köpfe und ich sehe Rafael mit ausgebreiteten Armen inmitten der Heidschnucken stehen, die plötzlich so friedlich sind, als hätten sie nie ein Wässerchen trüben können. Die ersten fangen sogar wieder an zu grasen. Wind umspielt Rafaels Locken und der Engel hat einen entrückten Gesichtsausdruck. Seine Augen fixieren einen Punkt in weiter Ferne. Adolf kommt angetrabt, hockt sich zu Rafaels Füßen auf die Hinterbeine und himmelt ihn an. Die ganze Szene sieht aus, als wäre sie Teil der Monumentalverfilmung eines Bibelthemas. Es fehlt nur noch, dass gleich der Himmel aufreißt und eine tiefe, väterliche Stimme zusätzliche Anweisungen verlautbaren lässt. „Du sollst niemals die Tiere deiner Schwester reizen!“ oder „Du sollst deinen Hund immer an der Leine halten!“ Ich fühle mich wie ein Komparse und vergesse für einen Moment, dass meine Schwester und ich vollkommen mit Dreck besudelt sind. Wir sehen aus, als hätten wir uns in Schweinemist gewälzt. Ich brauche auch einen neuen Verband für die Platzwunde auf meiner Stirn.
    „Ich hab ja gesagt, dass Rafael gut mit Tieren umgehen kann“, rutscht es mir etwas flapsig heraus. Aber eigentlich will ich damit nur verbergen, wie erleichtert ich bin, dass uns nichts passiert ist.
    „Seid ihr in Ordnung?“ fragt Rafael und senkt langsam seine Hände. „Ich hatte so eine Ahnung, dass ihr meine Hilfe benötigt.“
    „Du bist ein Idiot, Marco!“ erwidert Sabine wütend und rappelt sich hoch. Sie scheint wieder ganz die alte, hochnäsige Schwester zu sein. „Das hätte ins Auge gehen können! Man hetzt keinen fremden Hund auf eine Herde Heidschnucken!“
    „Ich habe ihn nicht gehetzt!“ verteidige ich mich. „Und woher soll ich wissen, dass deine Viecher solche Sensibelchen sind?“
    „Es sind Schafe! Sie handeln instinktiv und …“ Mitten im Satz bricht meine Schwester ihre Tirade ab und starrt Rafael an. „Ach, du Scheiße! Was um alles in der Welt ist denn mit dir los?“ fragt sie mit offenem Mund.
    Erst jetzt bemerke ich, dass Rafael nur mit einer Jogginghose bekleidet ist. Er steht mit bloßen Füßen auf dem gefrorenen Boden und auch sein Oberkörper ist nackt. Die Kälte scheint ihm tatsächlich nichts auszumachen. Aber das ist es nicht, was meine Schwester verstummen lässt. Ihr Blick ist gebannt auf Rafaels Rücken gerichtet, auf dem deutlich zwei Flügel mit flauschigen, weißen Federn zu erkennen sind. Sie sind zwar noch nicht ausgewachsen und haben etwa die Größe meiner Handflächen, aber sie sind da, unübersehbar.
    „Ach, herrje“, seufze ich.
    „Wie schon

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