Und dann der Himmel
Weihnachtsmarkt, der allerdings nur aus drei mickrigen Buden besteht, und natürlich auch einen Glühweinstand, der aber glücklicherweise gerade schließt. Während ich innerlich aufatme, ist Rafael die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als er sieht, wie zwei Männer die Theke säubern und die liegen gebliebenen Becher aufsammeln.
„Sei froh, dass es nichts mehr gibt!“ sage ich. „Oder hast du schon vergessen, wie viele Probleme du mir beim letzten Mal gemacht hast?“
„Ich wusste nicht, dass guter Sex ein Problem für dich ist“, raunt er mir zu und bringt mich damit zum Schweigen. Wie schnell und gründlich sich unser Verhältnis geändert hat in den letzten Tagen.
Vor dem Postamt, einem hässlichen, einstöckigen Betonbau, neben dessen Tür eine Hochglanzreklame allen Kunden der Post ein frohes Weihnachtsfest wünscht und auf die preiswerten Konditionen eines Postbank-Girokontos hinweist, hat sich schon eine große Menschenmenge eingefunden. Eine kleine Blaskapelle am Rande spielt „ O Tannenbaum“ , Väter tragen ihre Kinder auf den Schultern und die Mütter tauschen den neuesten Dorftratsch aus. Der weitaus größte Teil der Zuschauer besteht aber wie jedes Jahr aus Touristen. Man kann sie an den Digitalkameras in ihren Händen erkennen, mit denen sie ihre Lieben pausenlos fotografieren.
Mein Vater drängelt sich durch die Zuschauermenge, bis er für die ganze Familie einen Platz in der ersten Reihe gefunden hat, damit insbesondere die Kinder und Rafael gut sehen können. Dann schiebt er uns sogar noch die Stufen des Postamts hinauf, bis wir tatsächlich in der kleinen Schalterhalle stehen, sozusagen im Zentrum des Geschehens. Trotz der geöffneten Fenster ist die Luft warm und stickig, es riecht nach feuchter Kleidung und Paketpapier. Am Schalter sitzt ein Postbeamter in frisch gebügelter Uniform, der sich sichtlich unwohl fühlt angesichts der vielen Augen, die ihn erwartungsvoll anstarren. Kleine Schweißperlen haben sich auf seiner Oberlippe gebildet und er tupft wiederholt mit einem Taschentuch seine Stirn ab. Wahrscheinlich verflucht er innerlich den Dienststellenleiter, der ihn zu dieser Arbeit eingeteilt hat. Hinter ihm steht ein großer Jutesack, gefüllt mit den Briefen von Kindern aus aller Herren Länder, in denen sie dem Christkind in Himmelstadt seitenlang ihre Wunschlisten zu Weihnachten mitteilen.
Wir stellen uns hinter den Bürgermeister und seine Frau in Position, neben uns stehen vier erwartungsvolle Erstklässler, die ausgewählt wurden, als Belohnung für ihre guten schulischen Leistungen ihre Wünsche dem Christkind persönlich vorzutragen. Meine Mutter will Rafael eine langwierige Erklärung des zu erwartenden Schauspiels geben, als es auch schon losgeht. Draußen geht ein Raunen durch die Menge, die Blaskapelle intoniert plötzlich „ Oh When the Saints Go Marching in“ , und als ich mich umdrehe, steht das Christkind in Gestalt von Frau Annelie Birtle-Herkenrath inmitten der Zuschauer und breitet huldvoll, wenn auch etwas unbeholfen die Arme aus, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
„Oje“, grinst meine Mutter in sich hinein, „hoffentlich geht das gut!“
„Was meinst du?“ flüstere ich zurück.
Meine Mutter deutet mit dem Kopf zur ältlichen Organistin. „Merkst du nichts? Sie hat einen im Tee! Jedes Jahr hat sie so großes Lampenfieber vor ihrem Auftritt, dass sie sich mit ein paar Klosterfrau Melissengeist Mut antrinken muss. Und seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben ist, wird es immer schlimmer. Wahrscheinlich hat sie sich dieses Mal einen zu viel genehmigt.“
Und tatsächlich, als ich Frau Birtle-Herkenrath genauer betrachte, bemerke ich, dass ihre Wangen eine unnatürlich rote Farbe angenommen haben, die allerdings ebenso gut von zu üppig aufgetragener Schminke herrühren kann, doch die Organistin hat auch Gleichgewichtsprobleme und benötigt hin und wieder eine helfende Schulter, an der sie sich abstützen kann. Aufgrund ihrer hoch gewachsenen, schlaksigen Figur muss ich sofort an eine Birke denken, die sich im Wind wiegt. Überhaupt kommt mir das Christkind dieses Jahr ziemlich derangiert vor. Der angeklebte Heiligenschein hat eine leichte Schräglage und die blonde Lockenperücke sieht aus, als hätte sie ein Jahr lang ungekämmt im Kleiderschrank gelegen. Unter dem weißen Umhang ist die Tasche der Toga ausgebeult, als ob darin ein Flachmann versteckt wäre, und bei jedem Schritt schlägt der Inhalt der Tasche mit einem
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