Und dann kam Paulette (German Edition)
musste die ganze Nacht über Möbel verrücken, Schüsseln und Eimer unter die Lecks im Dach stellen und sie draußen ausleeren. Das war anstrengend.
Gleich wird sie das Ausmaß der Schäden begutachten.
Sie holt die Leiter aus dem Hühnerstall, trägt sie zum Haus, lehnt sie an die Fassade, tritt zurück, um zu prüfen, ob sie an der richtigen Stelle steht. Zwanzig Zentimeter nach rechts, zehn nach links, sie testet, ob die Leiter fest steht, dabei watet sie durch den Schlamm. Als sie den Fuß auf die erste Sprosse stellt, geht ihr auf, dass Klettern im Rock keine gute Idee ist. Sie geht wieder hinein, nimmt eine Hose aus dem Regal und stellt fest, dass alle Kleider nass sind. Eine undichte Stelle, die ihr bisher nicht aufgefallen ist. Direkt über dem Schrank.
Sie zögert, als sie erneut vor der Leiter steht. Summt nervös ein Lied, versucht, sich Mut zu machen. Sie setzt einen Fuß auf die erste Sprosse, dann den nächsten, hält inne, um Luft zu holen, vermeidet es, nach unten zu schauen. Sie hat noch nicht einmal die Hälfte geschafft, da kriegt sie weiche Knie. Der Abgrund zieht sie an. Sie schaut nach oben, sieht die Wolken, die sich am Himmel türmen. Gleich wird es wieder regnen. Sie klettert weiter, ohne noch einmal innezuhalten. Mit geschlossenen Augen. Oben angekommen, öffnet sie sie und sieht, in welch erbärmlichem Zustand sich das Dach befindet.
Der Regen prasselt auf sie ein, dichte, kalte Tropfen. Es nützt nichts, Marceline muss noch mal runter. Sie geht ins Haus, zieht ihren Regenmantel an und stopft alle Plastiktüten in die Taschen, derer sie habhaft werden kann. Dann klettert sie wieder nach oben. Diesmal zögert sie nicht. Sie versucht verzweifelt, die Löcher zwischen den Dachziegeln mit zusammengeknüllten Plastiktüten zu stopfen, und ist sich der Sinnlosigkeit dieser Aktion völlig bewusst. Aber auf die Schnelle fiel ihr keine andere Lösung ein.
Sie ist so sehr mit den Rettungsmaßnahmen für das Haus beschäftigt, dass sie weder ihren Hund bellen noch die Rufe der Kinder hört.
«Ma-dame! Madame Marceline!»
Ludo und Klein Lu rufen, so laut sie können, ihren Namen. Ferdinand ist etwas abseits stehen geblieben und mustert das Dach, erkennt mit Schrecken das Ausmaß der Schäden. Der Hund drückt sich an seine Beine, schiebt den Kopf unter seine Hand, damit er ihn streichelt. Marceline sind die Plastiktüten ausgegangen, sie steigt die Leiter herab. Endlich sieht sie die Kinder am Fuß der Leiter stehen, die Gesichter schauen zu ihr hoch, der Regen läuft an ihnen herunter. Sie lachen und hüpfen in den Pfützen herum, die zwei Wichtel in ihren viel zu großen Öljacken.
«Wir-haben-Karotten-für-Cornélius-und-auch-Äpfel …»
Sie traut sich nicht, zu Ferdinand hinüberzuschauen. Weniger, weil ihr schwindlig ist, sondern um in seinem Gesicht nicht die Bestürzung sehen zu müssen.
Ihretwegen könnte es noch viel stärker regnen. Dann würde niemand ihre Tränen sehen, ihr Schluchzen hören.
Cornélius in seinem Unterstand frisst den Kindern die Karotten und Äpfel aus der Hand und schüttelt dabei den Kopf.
«Freust du dich, uns zu sehen, Cornélius? Schmecken dir die Karotten? Und die Äpfel? Können wir noch mal auf dem Karren mitfahren?»
Klein Lu zeigt Ferdinand voller Stolz, dass der Esel alles versteht.
«Siehst du? Du wolltest uns nicht glauben!»
Ludo nickt zur Bestätigung und betrachtet die beiden Alten. Es ist wie mit dem Weihnachtsmann: Für seinen kleinen Bruder spielt er mit. Das ist der Vorteil des Älteren. Oder der Nachteil …
Ferdinand hilft Marceline, das Dach mit einer Plane abzudecken. Als sie fertig sind, sagt er ihr, dass sie den Dachdecker anrufen soll, damit er bald kommt, es ist dringend. Sie weicht seinem Blick aus. Er insistiert nicht. Dann schlägt er ihr vor, dass sie ihre Sachen so lange bei ihm unterstellen kann, kein Problem. Sie denkt darüber nach, geht ins Haus, kommt wenige Minuten später mit einem sperrigen Gegenstand zurück, der in eine Decke eingeschlagen ist. Sie legt ihn vorsichtig hinten ins Auto, so behutsam, als wäre es ein Baby. Die Kinder sind neugierig. Sie erklärt ihnen, dass es sich um ein Cello handelt. Es ist empfindlich und verträgt keine Feuchtigkeit. Wie ein Mensch könnte es sich einen Schnupfen zuziehen, wenn es zu lange unter dem undichten Dach stünde. Darum vertraut sie es ihnen an, bis ihr Haus repariert ist.
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11
Ferdinand bringt die Kinder zurück
Im Auto fragte Klein Lu
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