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Und dann kam Paulette (German Edition)

Und dann kam Paulette (German Edition)

Titel: Und dann kam Paulette (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Constantine
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zeichneten sie anschließend ein ungeschöntes Porträt von Hortense. Sie erzählten von ihrem Gesundheitszustand, ihrer hohen Pflegebedürftigkeit, von ihrer Angst vor Spritzen, ihren Stimmungsschwankungen, ihrem Gedächtnisverlust … Sie hörte sich alles an, aber es schien ihr keine Angst einzujagen, genau so jemanden hatten sie gesucht, jemand Couragiertes. Sie nahm die alten Leute für sich ein. Also erzählten sie ihr von ihrem Plan, den jeder für sich ausgebrütet hatte, ohne ihn mit den anderen zu besprechen: Gegen ein oder zwei Stunden Krankenpflege pro Tag, je nach Bedarf, boten sie ihr Unterkunft, Verpflegung und Wäsche-Service. Sie machte große Augen. Wenn es allein in ihrer Macht stünde, würden sie Muriel sofort zusagen. Aber sie musste noch die Prüfung bei Hortense bestehen, das war nicht ohne. Muriel erklärte sich dazu bereit und durfte sogleich einsteigen.

[zur Inhaltsübersicht]
    42
    Erste Spritze
    Nachdem sie die Spritze vorbereitet hatte, wusch Muriel sich sorgfältig die Hände, dann zog sie sich Einweghandschuhe an. Anschließend nahm sie eine Kompresse, imprägnierte sie mit einem Antiseptikum, reinigte das obere äußere Viertel der Pobacke der Patientin mit einer Kreisbewegung von innen nach außen, um die Keime von der Einstichstelle zu entfernen … Bis dahin ging alles gut, auch wenn ihre Hände leicht zitterten. Sie konzentrierte sich, holte tief Luft und beugte sich über Hortense. Mit verschwörerischem Gesichtsausdruck flüsterte sie der alten Frau ins Ohr, dass sie das Gefühl habe, hier würden merkwürdige Dinge geschehen. Als würden die Wände Stimmen von sich geben, finden Sie nicht auch, Madame Lumière? Hortenses Augen weiteten sich vor Schreck. Ohne weiter darüber nachzudenken, schrie sie los, das arme Mädchen sei ja nicht ganz bei Trost und müsse sich einer Behandlung unterziehen! Simone! Lass mich mit dieser Verrückten nicht allein! Sie hält sich für Jeanne d’Arc, sie hört Stimmen! Aber Muriel ließ sich nicht beirren. Sie ging noch näher ran. Hören Sie doch, die Wände singen. Mit gerolltem «r» und zittriger Stimme …
Entendez-vous ces chants
Doux et charmants
Bateaux de fleurs,
Où les couples en dansant
Font des serments …
    Hortenses Augen begannen zu strahlen. Von ganz allein stimmte sie die nächste Strophe an …
Nuits de Chine
Nuits câlines
Nuits d’amourrr …
Nuits d’ivrrresses …
De tendrrresses …
    Sie kannte den ganzen Text, von Anfang bis Ende. Während sie sang, nutzte Muriel die Chance, ihr die Spritze zu setzen. Ihre erste. Ihre Feuertaufe gewissermaßen. Hortense sang weiter, auch als die Nadel ihre Haut durchbohrte. Keine Schreie, kein Geheule, kein blauer Fleck am Bein. Tadellos. Als alles vorbei war, applaudierte Simone. Ein wahrer Triumph.
    Anschließend zeigten Ludo und Klein Lu Muriel das ganze Haus.
    Ohne zu zögern, entschied sie sich für ein Zimmer im anderen Flügel, der seit dem Tod von Ferdinands Eltern vor zwanzig Jahren leer stand. Das Zimmer war klein und nicht auf dem neuesten Stand, aber es erinnerte sie an das Haus ihrer Urgroßeltern, in dem sie als Kind ihre Ferien verbracht hatte. Die gleiche Atmosphäre, der gleiche Geruch. Eine Mischung aus Staub, Feuchtigkeit, altem Papier und … Mäusepipi! Die Kinder lachten, als sie das sagte. Ferdinand und Marceline lachten nicht. Sie wussten, was das hieß. Besorgt schnupperten sie die Luft im Raum, ihre Blicke begegneten sich. Kein Zweifel, sie würden die Dienste von Mosche und Lolli in Anspruch nehmen müssen, anschließend müssten sie den Boden mit Schmierseife schrubben und ihn mit Essigessenz und etwas Natron reinigen … in der Hoffnung, dass das genügte. Muriel setzte ihre Besichtigung fort. Als sie in der Anrichte eine Schublade aufzog, entdeckte sie eine Kollektion von Schlüsselanhängern, Weinkorken, in denen teilweise Nadeln steckten und die zum Verzehr von Strandschnecken gedacht waren, benutzte Geburtstagskerzen, zur Hälfte abgebrannt, und winzige vergilbte Schwarzweißfotos mit gezacktem Rand. Was sie am meisten überraschte, waren die Ansichtskarten, die an den Scheiben der Anrichte klebten. Ein Gefühl von Déjà-vu. Waren es dieselben Karten wie bei ihren Urgroßeltern? Orte, an die sie – dessen war sie sich ganz sicher – niemals im Leben einen Fuß gesetzt hatten? Dabei hätten sie Biarritz mit seinen eleganten Badegästen auf der Plage de la Milady, den Mont Saint-Michel im Nebel, die Promenade des Anglais in Nizza mit dem

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