Und dann kam Paulette (German Edition)
nichts mehr hier halten. So ist das, wenn man viele Jahre eng aneinandergeklebt hat. Man hat kein eigenes Leben mehr. Muriel findet das tragisch. In dem Punkt jedenfalls braucht sie selbst nichts zu fürchten, das wird ihr nicht passieren, sie ist superunabhängig.
Dann Guy, der Gewiefte, der Retter ausrangierter Fahrräder, der ständig sinnlose Pläne schmiedet. Es wirkt so, als würde er seine Schlaflosigkeit wie einen Garten hegen und pflegen. Mit kleinen Gardenien – die er unbeirrt Kamelien nennt, noch so eine Marotte der Alten – und anderen Blümchen, die er nach seiner Familie benannt hat, wie Gabyglöckchen, Isabellenkelche und Lulublüten … Nein, im Ernst, der Typ ist echt nett. Und gleichzeitig ein bisschen anstrengend mit seinen Spleens. Aber Muriel liebt das Fahrrad, das er ihr geschenkt hat. Es ist so ungewöhnlich, dass kein Mensch je auf die Idee kommen wird, es zu klauen. Auch wenn sie vergessen sollte, es abzuschließen. Diebstahlsicher, hundertpro.
Und natürlich Ferdinand. Der glaubt, dass ihn keiner durchschaut. Der meint, er hätte die Wunde gut versteckt, die sich quer über seine Brust zieht. Das ist wirklich zu witzig! Er tut so, als hätte er keine Erwartungen mehr, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen. Dabei ist er erst siebzig, verdammt noch mal! Und er hat Tomaten auf den Augen, der Kerl. Wenn er nicht so doof wäre und seine Augen aufmachen würde, würde er sehen, dass sein Leben noch nicht zu Ende ist. Er würde sehen …
Marceline. Die jüngste von den fünfen, mit der man über alles reden kann, die schon kleinste Andeutungen versteht und gerne lacht. Nur dass sich hinter ihrer ruhigen Art ein noch größerer Schmerz verbirgt als bei den anderen. Sie hat es geschafft, sich in die WG einzufügen, trotz ihres leichten Akzents, ihres Eselskarrens und ähnlicher Dinge. Muriel würde sie gern fragen, warum sie sich hierher verzogen hat, was sie in einem Kaff wie diesem sucht. Irgendetwas stimmt da nicht. Davon mal abgesehen, ist sie genauso närrisch wie die anderen. Mit ihrem Esel, den man fragen muss, ob er bereit ist, einen herumzukutschieren, total abgedreht …
Die Weihnachtsferien kommen ihr wie gerufen. Muriel kann endlich ausschlafen und sich nachmittags auch noch mal hinlegen. Sie hat jede Menge Schlaf nachzuholen. Die übrige Zeit kümmert sie sich um Hortense, paukt den Stoff für die Schule, hilft beim Kochen. Für Langeweile fehlt ihr die Zeit. Außerdem hat Isabelle ihr Arbeit angeboten: drei Abendessen und ein Mittagessen im Restaurant. Das Geld hat sie schon verplant. Für Klamotten. Seit sie regelmäßig isst, hat sie ein paar Kilo zugelegt und passt in keine Hose mehr.
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Nüsse knacken
Es ist gerade mal fünf Uhr nachmittags und schon dunkel. Ludo läuft im Gleichschritt neben Cornélius her, eine Hand hat er auf den Hals des Esels gelegt, die andere auf Berthes Rücken. Bei den beiden fühlt er sich sicher. Er kann seiner Phantasie freien Lauf lassen. Er ist allein, seine Eltern wurden von Feinden gefangen genommen, aber ihm ist es gelungen, mit seinem Esel Cornélius und seiner Hündin Berthe zu entkommen, jetzt sind sie seit Stunden unterwegs, im Dunkeln würde man sie nicht so leicht ausfindig machen, auch wenn sie sehr darauf achten müssen, keine Geräusche von sich zu geben, nicht zu husten, nicht zu niesen, nicht zu bellen, nicht einmal zu pupsen, was für einen Esel nicht so einfach ist, aber Cornélius ist kein normaler Esel, er versteht alles, er kneift die Pobacken zusammen, unterdrückt ein Pupsen, weil er begriffen hat, dass das gefährlich wäre, das könnte die Bösen auf den Plan rufen, und das wäre schrecklich, sie würden ihr Gewehr nehmen und auf sie schießen, denn sie sind echt brutal, aber sie selbst sind jetzt müde – dass dem Hund die Zunge bis zum Boden hängt, ist der Beweis –, wenn das so weitergeht, verdurstet er noch, Ludo muss ihm unbedingt Wasser geben, um ihn zu retten, aber es gibt keine Wasserhähne mehr, es ist Krieg, da wurden alle abgedreht, doch das ist nicht schlimm, er wird einen Fluss finden, nur müssen sie sich vorher ausruhen, das stundenlange Laufen strengt an, he, eine verlassene Scheune, darin könnten sie sich verstecken und auf dem Stroh schlafen, aber zuerst müssen sie etwas essen, ihre Mägen knurren schon, so hungrig sind sie, klasse ist, dass sie so viel Proviant dabeihaben, drei Säcke mit Walnüssen liegen auf dem Karren, die haben sie von einer Frau stibitzt,
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