Und dann kam Paulette (German Edition)
Füße den Boden nicht mehr berühren. Ein sehr angenehmes Gefühl. Ich möchte unbedingt, dass es anhält, will auf keinen Fall zu schnell wieder auf der Erde landen … Ich gehe in meine Garderobe, setze mich vor den Spiegel. Mein Handy piept, während des Konzerts ist eine Sprachnachricht eingegangen. Ich kenne die Nummer nicht und beschließe, die Nachricht später abzuhören. Zuerst muss ich mich abschminken und umziehen. Von diesem Augenblick an läuft alles in Zeitlupe ab. Das ist zumindest mein Eindruck. Dabei weiß ich genau, dass es nicht so war, doch der Eindruck bleibt hängen. Meine Erinnerung hat alles verzerrt, hat die Zeit gedehnt, ganz bestimmt. Nun gut, ich nehme das Handy in die Hand und höre die Nachricht ab. Die Stimme bittet mich, eine Nummer anzurufen. Plötzlich wird mir ganz kalt, was mich nervt. Bestimmt hat wieder einmal jemand den Personaleingang offen gelassen, von dem aus man hinter dem Theater auf die Straße kommt. Aber das ist es nicht … Ich wähle die Nummer, vertippe mich mehrmals, dann fragt mich jemand nach meinem Namen, möchte, dass ich mich gedulde, anschließend kommt eine weibliche Stimme an den Apparat, eine sanftere, bedächtigere: Madame, es ist etwas passiert. Am liebsten würde ich meine Ohren verschließen, dieses absurde Gespräch unterbrechen, aber ich lege nicht auf, erhebe mich von meinem Stuhl, und die Stimme nennt die Namen meiner Töchter, mir gefriert das Blut in den Adern, sie sagt, dass sie einen Unfall hatten, ich gehe auf die Knie, es zerreißt mich, die Stimme versucht, Zeit zu gewinnen, ich heule, schreie, sie spricht weiter, sagt, dass der Aufprall sehr heftig war, sie haben nicht mehr mitbekommen, was passiert ist. Nein! Ich will das nicht hören! Will das nicht wissen! Sie irren sich! Sie sagt, es tut ihr sehr leid … Ich bitte Sie, nein, bitte nicht. Lassen Sie mich die Zeit zurückdrehen, alles auslöschen, die Nummer nicht anrufen. Hätte ich bloß vorher aufgelegt, vielleicht wäre dann … Ich wünschte, es hätte diese Stimme nie gegeben, sie hätte diese Worte nie gesagt. Ich wünschte … sie wäre tot! Entschuldigen Sie … es ist bescheuert … es nimmt mich nach wie vor sehr mit. Ich würde gern ein wenig an die frische Luft gehen.
Ferdinand hält Marceline am Arm. Es ist dunkel, es ist kalt. Sie gehen ein langes Stück, ohne etwas zu sagen. Dann kehren sie zurück. Ferdinand setzt Wasser auf, kocht einen Kräutertee. Sie setzen sich nebeneinander vor den Ofen, sofort kommen die Katzen und legen sich auf ihren Schoß. Lollita hat einen leicht kugeligen Bauch. Etwas naiv bemerkt Ferdinand, dass sie ihn sich wohl mit Mäusen vollgeschlagen hat, unser Jagdkätzchen. Und Marceline kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie sind wirklich drollig und charmant, Ferdinand, würde sie am liebsten zu ihm sagen. Fast tut sie es sogar. Doch dann bleiben ihr die Worte auf der Zungenspitze liegen.
Ferdinand weiß jetzt etwas mehr über Marcelines zwei Töchter.
Dass sie hübsch waren, dass sie Berge versetzen konnten. Sie wollten so vieles machen, so vieles lernen. Sogar das baufällige Dach auf dem Haus, das sie sich gekauft hatten, wollten sie reparieren, bevor sie dort einzogen! Nichts war unmöglich. Beide hatten sich von ihren Partnern getrennt – Zwillinge machten häufig Dinge zur gleichen Zeit – und wollten wieder bei null anfangen, gemeinsam. Und dann kreuzte ihr Weg den eines verzweifelten jungen Mannes. Und ohne es zu wollen, riss er sie mit in den Tod. Sie waren fünfundzwanzig, er neunzehn. Marceline stellt sich vor, was sie zu ihm gesagt haben, wie sie den armen Kerl angepflaumt haben, als es mit ihnen vorbei war. He! Was soll der Scheiß? Was hast du dir dabei gedacht? Hättest du dich nicht einfach volllaufen lassen und dann zu Hause bleiben können, du Arsch? Deine Tussi lässt dich sitzen, und du hast nichts Besseres zu tun, als in den Tod zu rasen? Das war sie doch nicht wert, die blöde Kuh, die war doch strohdoof! Du hättest bestimmt was Besseres gefunden. Eine, mit der du um die Welt reisen kannst, überleg mal? Und jetzt, finito, alles futsch. Aus der Traum. Und deine Eltern, weißt du, was du denen angetan hast? Weißt du, dass sie bis ans Ende ihres Lebens denken werden, sie seien schuld daran, dass du wie ein Loch gesoffen hast? Sie werden glauben, dass sie dich nicht genug geliebt haben, dass sie etwas falsch gemacht haben. Das ist zum Kotzen. Du weißt genau, dass sie getan haben, was sie konnten. Und sieh
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