und das geheimnisvolle Erbe
zurückhaltend gewesen.«
»Zurückhaltend? Bill?«
»Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass er in Gesellschaft junger Damen eine gewisse Scheu an den Tag legt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er für eine Dame Kleidungsstücke aussucht.« Willis senior beugte sich zu mir herüber. »Sagen Sie, hat er sonst noch etwas getan, das Sie bemerkenswert finden?«
»Heute früh nahm er mich mit aufs Dach, um mir einen Sternschnuppenschwarm zu zeigen.«
Willis senior blieb der Mund offen stehen. »Er ist mit Ihnen zu Edmunds Kuppel gegangen? Oh, das ist wirklich außergewöhnlich. Ohne Präzedenzfall, muss man schon sagen. Die Studenten dürfen na-türlich hinauf, aber ich habe noch nie erlebt, dass Bill jemanden dorthin eingeladen hat, außer mich natürlich. Ich kann mir gar nicht denken, warum …« Er runzelte die Stirn und sah ratlos aus.
Ich war nicht ratlos. Es war doch klar, dass Bill bei den reichen und verwöhnten »jungen Damen seiner Bekanntschaft« nicht den Märchenprinzen spielen konnte. Was er brauchte, war ein Aschen-puttel, ein dankbares Waisenkind, das er nach seinen Vorstellungen formen konnte. Schon bei dem Gedanken ging mein Blutdruck wieder in die Höhe, aber das waren Dinge, die ich seinem liebenden Vater nicht erklären konnte.
»Meine liebe Miss Shepherd«, sagte Willis senior schließlich, »ich habe für das merkwürdige Verhalten meines Sohnes keine Erklärung. Ich kann nur hoffen, dass Sie mir glauben, wenn ich Ihnen versichere, dass er ein weiches Herz hat. Ich bin überzeugt, es war gut gemeint, auch wenn er sich ungeschickt angestellt hat.«
»Wie auch immer«, fuhr er fort, »ich muss Ihnen dennoch mitteilen, dass sein Verhalten kein Grund ist, Miss Westwoods Anordnungen zuwiderzuhan-deln. Zwar muss ich gestehen, dass mich der Gedanke, Sie könnten die Gegenwart meines Sohnes unerträglich finden, etwas traurig macht …«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich schnell.
»Ihr Sohn ist mir nicht unerträglich , Mr Willis. Er ist nur ein bisschen …«
»Voreilig?«, schlug Willis senior vor.
»Ja, aber auf eine sehr aufmerksame Art und Weise«, versicherte ich ihm. »Ich glaube, ich muss mich nur erst an ihn gewöhnen.«
Das Gesicht von Willis senior hellte sich auf. »Ich freue mich, dass Sie das sagen, Miss Shepherd.
Dann werden Sie also wie geplant vorgehen? Sie werden nach England fliegen und die Einführung zu dem Buch schreiben? Es war Miss Westwood so wichtig.«
»Natürlich mache ich es«, sagte ich. »Auch mir ist es wichtig.«
»Und Sie werden meine Einladung annehmen und als mein Gast hier bleiben?«, fragte er.
Hätte ich die Freundlichkeit des alten Mannes ablehnen können? Ich nickte, und er sah sehr zufrieden aus. Er legte die Papiere auf den Sofatisch, dann saßen wir ein paar Minuten lang schweigend da. Ich war noch immer etwas benommen von all dem, was da auf mich zukam. Die wichtigste Entscheidung, die ich in letzter Zeit hatte treffen müssen, drehte sich darum, wie viele Bücher ich in der öffentlichen Bücherei gleichzeitig ausleihen wollte.
Und nun saß ich hier, mit einem bezahlten Überseeflug, einem unbegrenzten Spesenkonto und der Aussicht, mit einer Arbeit, die mir reichlich Spaß machen würde, zehntausend Dollar zu verdienen.
Wo sollte ich anfangen? Was machte man mit einem Spesenkonto? Ich hatte darin keine Erfahrung, aber bei dem geduldigen Lächeln von Mr Willis kam mir eine Idee.
»Fühlen Sie sich gut, Mr Willis?«, fragte ich, und dabei knetete ich nervös meine Hände im Schoß.
»Nett, dass Sie fragen«, sagte er. »Ja, danke, Miss Shepherd, ich fühle mich ganz wohl.«
»Darf ich Sie dann … darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?« Hastig fügte ich hinzu:
»Wenn Ihre Arbeit es erlaubt und Sie noch nichts vorhaben und sich auch wirklich wohl fühlen …«
»Miss Shepherd«, unterbrach Willis senior behutsam, »es ist mir eine große Ehre, Ihre freundliche Einladung anzunehmen.« Er legte seine runzlige Hand auf meine ruhelosen Finger, und ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, sie wegzuziehen.
7
Willis senior liess unser Essen in der großen Bibliothek im Erdgeschoss servieren, einem Raum, der von A bis Z aus einem großen englischen Landhaus hätte stammen können. »Mein Großonkel, Edmund Willis, hatte einen Kupferstich von der Bibliothek in Chatsworth gesehen«, erklär-te Willis senior, »und da beschloss er, dass seine auch so aussehen soll.« Der Raum war lang und verhältnismäßig schmal, mit
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