und das geheimnisvolle Erbe
vorkam, dass es Ende April in Südengland schneite.
Der Garten entschädigte mich jedoch etwas für den grau verhangenen Himmel. Dem Meer von Blüten vermochte die Kälte anscheinend nichts an-zuhaben – hinter der Steinmauer auf der Wiese fingen sogar gerade zwei Judasbäume an zu blühen.
Mir fiel wieder ein, was Emma über den Flieder gesagt hatte, aber als der Wind mir die ersten Re-gentropfen ins Gesicht wehte, verscheuchte ich den Gedanken und ging hinein, um auszupacken.
Ich stellte meine Bücher auf das Regal, verstaute Reginalds Karton unten im Kleiderschrank und meine restlichen Sachen in den Schubladen der Kommode. Ich brauchte nur drei der Schubladen, deshalb beschloss ich, meine Reisetasche in die unterste zu legen, und dort fand ich das Kästchen. Es lag ganz zuhinterst, und ich hätte es gar nicht bemerkt, wenn es durch den Schwung, mit dem ich die Schublade öffnete, nicht nach vorn gerutscht wäre.
Ich trug es ans Fenster, durch das ein trübes graues Licht ins Zimmer fiel. Das Kästchen war aus glattem dunkelblauem Leder, in das ein verschnörkeltes W eingraviert war. Es passte bequem in meine Hand-fläche, und als ich an einer der Kanten ein winziges Schlüsselloch entdeckte, war ich enttäuscht. Ohne Schlüssel hätte ich es wohl mit Gewalt öffnen müssen, aber ich wollte das Kästchen nicht beschädigen.
Dennoch hätte ich nur zu gern gewusst, was darin ist. Falls es ein Porträt von Dimity enthalten sollte, dann wäre es das erste Bild, das ich von ihr zu sehen bekäme.
»Verdammt«, sagte ich. Zum Teufel, dachte ich und versuchte, den Deckel anzuheben – er bot keinen Widerstand. In dem Kästchen war ein goldenes Medaillon. Es war herzförmig, auf der Vorderseite waren Blumen eingraviert, und es hing an einem dünnen Goldkettchen. Vorsichtig nahm ich es aus dem Kästchen, schob den Daumennagel in den Spalt und öffnete es.
Beide herzförmigen Hälften boten Platz für ein Miniaturbild, aber beide waren leer. Ich ließ das Medaillon zuschnappen und betrachtete es nachdenklich. Wie meine Mutter in ihrem Brief schrieb, hatte sich Dimity Fotoalben angesehen, als die Nachbarn sie, dem Zusammenbruch nahe, in ihrem Haus fanden. Wo waren diese Alben jetzt? Was, wenn das Bild, das sie meiner Mutter gegeben hatten, aus einem dieser Alben stammte, und wenn die Seite beschriftet gewesen wäre und … Ich legte mir die Kette mit dem Medaillon um, als Erinnerung, dass ich Dimitys Alben suchen müsste. Dann lauschte ich an der Tür, ob im Flur etwas zu hören war.
Der Wind ratterte an den Fenstern, und der Regen prasselte gegen die Scheiben, aber sonst war es im Haus still. Von Bill hatte ich seit dem Abend zuvor keinen Ton mehr gehört. Vielleicht war er ja so vernünftig gewesen, für den Rest des Monats bei Familie Harris einzuziehen.
Die Lampen waren alle ausgeschaltet, und im Arbeitszimmer brannte ein gemütliches Feuer, was ich für den Beweis hielt, dass Bill den Unsinn mit dem Spuk aufgegeben hatte. Ansonsten hätte er sicher meine angeblichen magischen Kräfte bemühen müssen, um das Feuer in Gang zu bringen. Ich fragte mich, ob er womöglich die ganze Nacht aufgeblie-ben war, um im Arbeitszimmer die Geschichten von Tante Dimity zu lesen und – wie ich hoffte – sich zu schämen.
Mein Erfolg mit den Crumpets sowie die Tatsache, dass kein Zeuge da war, gaben mir den Mut, es mit einem Omelett zum Frühstück zu versuchen.
Zu meinem großen Entzücken und meiner noch größeren Verwunderung wurde es ein leichtes und lockeres Gebilde, und der Duft des geschmolzenen Käses ließ mir das Wasser im Mund zerlaufen. Ich setzte mich zum Frühstücken in den Wintergarten und sah zu, wie der Regen in Strömen an den Scheiben herunterlief. Im Stillen wünschte ich den Harrisens, dass die Reparaturen am Pfarrhaus noch rechtzeitig fertig geworden waren. Als das Telefon läutete, ging ich ins Arbeitszimmer, um das Gespräch anzunehmen.
»Ich hoffe sehr, dass ich den Zeitunterschied richtig berechnet habe.« Die Verbindung war schlecht, und es krachte in der Leitung, aber die Besorgnis in der Stimme von Willis senior drang laut und deutlich herüber. »Ich habe Sie hoffentlich nicht aufge-weckt, Miss Shepherd?«
»Nein«, sagte ich, »aber das wäre auch nicht schlimm gewesen. Es ist so schön, Sie zu hören.«
»Danke, Miss Shepherd. Auch ich freue mich, mit Ihnen zu sprechen. Ich hoffe, Sie sind gut angekommen?«
»Paul hat uns gestern Abend bis vor die Tür gefahren.«
»Und das Haus –
Weitere Kostenlose Bücher