Und das Glück ist anderswo
Land.«
Noch während Liesel ihren Mann verwünschte, dass er ihr das Wiedersehen mit ihrer alten Schule eingeredet hatte, und sich selbst eine unverzeihlich sentimentale Närrin schalt, dass sie sich überhaupt auf ihre Erinnerungen einließ, fing ihre Haut an zu brennen. Die Glut versengte ihre Oberarme, ihre Wangen, Stirn und Nacken und schließlich ihre Nerven. Die Tage, Monate und Jahre, die seit ihrer Schulzeit in Nakuru vergangen waren, zerschmolzen in einer Glut, die nur einem afrikanischen Buschfeuer entstammen konnte. Liesel war es, als könnte sie weder sehen noch atmen, als wäre sie stumm und taub. Sie wusste nicht, ob sie noch acht oder schon achtundsiebzig war.
Dennoch verlor sie nicht ihren Mut, auch nicht ihre Kampfbereitschaft. Wie in ihren Kindertagen machte sie sich bereit, sich der Angst zu stellen. Ohne ein Brandmal entkam die Riesin dem Höllenfeuer, und im glückhaften Moment ihrer Rettung genoss sie in vollen Zügen den Rausch des Sieges, um den es ihr immer so viel mehr gegangen war als um Zufriedenheit und Glück. Sie stieg aus dem Auto, zufrieden und selbstbewusst wie eine Touristin, die alle in ihrem Reiseführer vorgeschlagenen Routen abgefahren und festgestellt hat, dass der Tee nirgends so gut schmeckt wie zu Hause.
Ein zufälliger Beobachter hätte ausschließlich Alltägliches bemerkt, hätte eine junge, auffallend sportliche, sehr muskulöse Frau in schlecht sitzenden Hosen gesehen, die dabei war, sich in einer fremden Umgebung umzuschauen -so wie es jede andere getan hätte, die den Tag, die Landschaft, die fröhlichen Schulkinder, das Gefühl von Muße und Ungebundenheit genießen wollte. Liesels Augen jedoch weigerten sich, auf die Safari zu gehen, nach der es die Reisende im Lande der Safaris sonst verlangt. Sie verweigerten den oberflächlichen Genuss, und schon gar nicht ließen sie sich von der Schönheit der Unendlichkeit verführen. Die Schönheit von Nakuru war Liesel jahrelang vertraut gewesen und für sie ohne irgendwelchen Reiz. Selbst den freundlichen Lehrer mit der Löwenkrawatte, mit dem jeder andere gelacht und gescherzt hätte, nahm sie kaum wahr. Ihr war noch nicht einmal bewusst, dass sie dem Liebenswürdigen die Höflichkeit derer schuldete, die in der Fremde spontan als Freunde willkommen geheißen werden. Die Rückkehrerin in ein Leben, an das sie so selten wie möglich zu denken pflegte, denn sie wollte in London und nirgendwo sonst zu Hause sein, ließ sich auch nicht von den kecken kleinen Schülern überreden, die Kostbarkeit des Augenblicks zu empfinden.
Die Kinder in ihren hellblauen Kleidern und gelben Hemden standen immer noch um das Auto herum. Mit der Ausdauer Afrikas warteten sie auf die Lösung des Rätsels, was die vier Menschen, die ihnen so nahe gekommen waren wie zuvor noch kein Europäer, vorhatten. Ein Mädchen, kleiner als die anderen und mit den großen, sanften Gazellenaugen, die so typisch sind für die Kinder der Kikuyu, schon jeder Inch eine künftige langbeinige Schönheit, holte die Scherbe eines zerbrochenen Spiegels aus der Tasche seines Kleids. Vergnügt fing die Magierin einen Strahl der Sonne ein, und mit einer kleinen, schüchternen Bewegung schenkte sie der fremden weißen Frau einen Teil der kostbaren Beute. Die aber hatte sich zuvor von ihren Erinnerungen und Verwirrungen blenden lassen und sich geschworen, künftig nur den beweisbaren Geschichten zu trauen. So beging Liesel, ohne dass sie dies erfuhr, die Todsünde, das Lächeln eines Kindes nicht zu erwidern. »Flamingos«, wollte das Mädchen noch sagen, doch das Wort, soeben erst gelernt, war zu grob und sperrig für seinen Mund, und so verschluckte die einfallsreiche Sonnendiebin die beiden letzten Silben.
Einen kurzen Augenblick muss der Zauber dennoch gewirkt haben. Gerade in dem Moment, da sie sich abwenden wollte, ließ sich Liesel von dem Charme des Kindes rühren. Sie kam vom Weg ab und merkte es nicht. Obwohl das kleine Mädchen eine besonders dunkle Haut und so leuchtend weiße Zähne hatte, wie sie nur den Menschen Afrikas geschenkt werden, erinnerte die Kleine durch die kokette Haltung ihres Kopfes und die beredte Sprache ihrer Augen Liesel an ihre jüngere Cousine. Zwar war die blond und schon mit vier Jahren so gewandt wie ein Schulkind gewesen, doch ebenso zur Herzensbrecherin geboren wie die zierliche Kikuyu mit der Scherbe. Liesel spürte einen stechenden Schmerz. Er trieb ihr das Salz in die Augen und spaltete ihr Herz. »June«, schluckte sie.
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