Und das Glück ist anderswo
Schmollmund und hoch erhobener Rechter. »Das erinnert mich an die verdammte Schule.« »Woran erinnern dich denn die Kinder hier?«, fragte David.
Er hat seine Schwester überholt, erkannte die Mutter. David setzte Ironie als Waffe ein, genau zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Dosis. Soweit sie das beurteilen konnte, schaute er das seinem geliebten Rabbi White ab. Weder sie noch Emil neigten ja zum Sarkasmus. »Das muss unser deutsches Erbteil sein«, pflegte Emil zu interpretieren, »immer mit beiden Füßen ins Fettnäpfchen.« Liesel nahm sich vor, zu Hause in aller Ruhe mit Emil über den Rabbi zu sprechen. Es war nicht gut, wenn Außenstehende zu viel Einfluss auf die Kinder nahmen. Schon gar nicht so früh.
»Hört auf zu streiten«, sagte sie in dem weinerlichen Ton entnervter Mütter, und weil es das Familienritual von früher her auch noch so wollte, seufzte sie pathetisch und hielt sich die Ohren zu, als würde sie Qualen leiden. Einen Moment rührte es Liesel, dass Rose und David den Satz und den Seufzer immer noch von ihr erwarteten, damit ihre alte Kinderwelt nicht vor der Zeit zerfiel, aber sie gönnte sich nicht genug Zeit für ein weiches Herz. Sie war schon wieder dabei, sich der Gegenwart zu entziehen. Handfeste Beweise waren nicht gefragt, wenn der Kopf auf Safari ging. Für Liesel stand fest, dass ein verdursteter, entwurzelter Eukalyptusbaum, der wahrscheinlich längst in einem Feuer vor einer kärglichen Hütte zu Asche verglüht war, genauso stark duftete wie vor fünfundzwanzig Jahren, als er noch die Träume junger Mädchen belauschte.
Unsere Sinne scheren sich nicht um die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Sie lassen sich jederzeit willig überrumpeln, und sobald sie ihre verwehten Geschichten erzählen, überrumpeln sie uns mit Siebenmeilenstiefeln. Eine Gier, die sie überwältigte wie zuvor der Blitzstrahl der Erinnerung, ließ sie zu tief einatmen. Der Duft, der die Tage der Kindheit zurückrief, war unverwechselbar und betäubend. Es war Sonntag, und die jüdischen Schülerinnen waren unerwartet vom ungeliebten Kirchgang dispensiert worden, denn Mitschülerin Leah stand unter dem Verdacht von Mumps, und Miss Chart, die Aufsicht führende Lehrerin, hatte die Quarantäne nach der Konfessionszugehörigkeit verhängt. Kaum hatte Liesel daran gedacht, wie sie und ihre Freundinnen an diesem besonderen Sonntag die Eukalyptusblätter zwischen Daumen und Zeigefinger zerrieben und das duftende Pulver gekaut hatten, um den sie anwidernden Geschmack vom Frühstücksspeck aus dem Gaumen zu bekommen, rollte die Flut der Eindrücke auf sie zu. Noch zaghaft, aber schon voller Erwartung setzte sie sich unter den Eukalyptusbaum, den niemand außer ihr sehen konnte. Wie angenehm war sein Schatten, wie faszinierend und unvergessen jede Szene des Schauspiels, das sich vor ihr entrollte.
Als Erste traf Vicky ein, die Schönheit mit der kleinen Nase, um die sie ihre Freundinnen glühend beneideten. Vicky war die moderne Version der Königstöchter im Märchen. Sie brauchte nur ein Lächeln anzudeuten und die fein geformten Hände auszustrecken, um das zu bekommen, was sie wollte. Schneewittchens blonde Schwester war sie gewesen, zart wie eine Fee und grazil wie eine Primaballerina, immer freundlich, stets heiter, noch liebreizend in der Schuluniform, die andere Mädchen zu ganz gewöhnlichen kleinen Trampeln oder zu dürren Vogelscheuchen machte. Sie war eine Prinzessin mit blauen Augen, denen niemand widerstehen konnte, von den Mitschülerinnen angehimmelt, aber auch ein Liebling der
Lehrer, obwohl sie nur in einem Fach überzeugte. Dass die blonde Elfe wie ein mittelalterliches Burgfräulein sticken konnte, entzückte selbst die Mathematiklehrerin, in deren Unterricht sie bis zum letzten Schultag Schwierigkeiten mit Brüchen und Prozenten hatte. Vickys reine Stimme brachte sie, worauf sie besonders stolz war, in den Kirchenchor. Die Prinzessin von Nakuru, ein Emigrantenkind wie seine Freundinnen auch, feierte soeben ihren zwölften Geburtstag. Weil der mitten ins Schulsemester fiel, gab es keinen Geburtstagskuchen mit hellblauem Zuckerguss, keine üppigen Geschenke, nur einen Brief von den liebevollen Eltern, die ihr einziges Kind vergötterten.
Es waren alltägliche Kinderträume gewesen, die unter dem Eukalyptusbaum geschäumt hatten, und doch hatte Liesel keinen einzigen vergessen. Vicky hatte damals als Erste die Zukunft beschworen. Ein englischer Edelmann sollte um sie freien. Er trug
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