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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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über sonnige Höhen, auf denen sie zu ihrem Kummer allerdings nie länger als einen Herzschlag lang verweilen durfte, und dann durch die Tiefen der Angst, aus denen wiederum eine bedrohliche Finsternis emporstieg, in der sie zu ersticken meinte. Aus dem Hinterhalt tauchte ein seltsamer, sie ein Leben lang bedrückender Tag auf. Noch waren die Bilder in jenem tröstlichen Grau gehalten, das vor der Wirklichkeit schützte, doch schon erreichte Liesel jedes Wort, das damals gesprochen worden war. Sie hatte sich ihrer Mutter geschämt, und noch als erwachsene Frau konnte sie sich nicht verzeihen, dass sie es getan hatte. »Hier auf dem Tennisplatz war es«, flüsterte sie, »exakt hier.«
    Sie schaute sich verblüfft um, kniff die Augen zusammen, als würde sie die Sonne blenden, und schniefte. Wie eine Schülerin kam sie sich vor, die nicht nur bei einer groben Verfehlung ertappt worden ist, sondern auch noch die einzige Ausrede vergessen hat, mit der sie den Klauen der Obrigkeit entkommen könnte. »Ach«, sagte sie.
    Es gab keinen Tennisplatz mehr, nicht die vertrauten schattigen Bäume oder den täglich bewässerten Rasen zwischen den einzelnen Spielfeldern, nicht einmal ein Netz oder die Umzäunung aus hellem Maschendraht, gegen den die Bälle immer geprallt waren. Die weiß lackierten Bänke für die Zuschauer waren ebenfalls fort. Liesels Mutter hatte sich an einem Besuchstag für Eltern einmal auf so eine Bank setzen wollen. Sie hatte ein dunkelblaues Seidenkleid mit kleinen weißen Blumen angehabt. Schon das hatte Liesel gestört, denn die Mütter der britischen Kinder, mit denen dieses ehrgeizige Mädchen so gern befreundet gewesen wäre, trugen keine geblümten Seidenkleider. Immer nur Tweed oder Khaki. Noch peinlicher: Die Mutter im falschen Kleid und mit der falschen Muttersprache hatte sich ausgerechnet auf eine der Bänke am Tennisplatz setzen wollen, die für die Angehörigen der Spielerinnen reserviert waren. Und nun war der Tennisplatz verschwunden, aber mit ihm nicht die Vergangenheit, nicht die Steine, die sich nachts auf die Brust legten und Tonnen schwer waren. Liesel sah sich aufgeregt, gehetzt, geängstigt an ihrer Mutter zerren. An dem geblümten Blauen. »Das darfst du nicht«, hatte sie gefleht, »das ist verboten.«
    »Was darf ich nicht?«
    »Dich hier auf die Bank setzen. Die Bänke sind nicht für dich.«
    »Was? Dürfen Juden auch hier nicht auf den Bänken sitzen? Ich dachte, das gibt’s nur bei den Nazis.«
    Acht Jahre alt war Liesel damals gewesen und so froh wie nie zuvor und nie mehr danach, dass ihre Mutter nur Deutsch sprechen konnte und dass sie niemand hatte verstehen können. Noch nicht einmal die eigene Tochter hatte begriffen, worum es ging. Nun aber war aus den verdrängten Tagen eine Gegenwart geworden, die auf ihr Recht pochte. Es war endlich Zeit, der Mutter zuzulächeln und ihr zu erklären, weshalb ihr Kind damals so aufgeregt gewesen war. Erst Jahrzehnte später, als sie nicht mehr in der schützenden afrikanischen Enklave lebte, hatte Liesel die Reaktion einer Frau verstanden, die in ihrer ehemaligen deutschen Heimat noch nicht einmal mehr auf einer Bank hatte sitzen dürfen. »Für Juden verboten« hatte die Mutter erklärt, und die Tochter, die gelernt hatte, sich in jeder Situation erst einmal zu entschuldigen, hatte »Sorry, Mummy« gestammelt. Und dann hatte sie sich wiederum geniert, denn zu Hause auf der Farm nannte sie ihre Mutter ja nicht »Mummy«, sondern Mutti.
    »Nicht die Flamingos?«, wiederholte der Lehrer.
    »Nicht die Flamingos?«, skandierten seine Schüler.
    »Ich habe«, sagte Liesel, zugleich erleichtert und erstaunt, dass sie nun reden konnte, ohne dass sich ihre Stimme überschlug, »nur einen Baum gesucht. Einen Eukalyptusbaum. Er war sehr hoch und hatte viele schöne Äste.« »Hier sind alle Bäume im letzten Jahr gestorben, Mama. Als der große Regen ausgeblieben ist, wollten sie nicht mehr leben. Hast du denn unsere Bäume hier gekannt?« »Ja. Ich habe sie gekannt. Sehr gut habe ich die Bäume hier gekannt.«
    »Er hat dich Mama genannt«, kicherte Rose. Sie gab sich Mühe, beim Sprechen ihre Augenbrauen zu heben, und sie wirkte dabei so einfältig und manieriert, dass ihre Mutter erschrak.
    Davids Augen funkelten Zorn. »Halt einmal im Leben deine verdammte Klappe, Rose Procter«, zischte er. »Oder ich drehe dir deinen schönen Hals um. Das schwör’ ich dir. Hier bist du keine jüdische Prinzessin. Hier bist du Gast in einem fremden

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