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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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suchte mit der gleichen Umständlichkeit wie beim ersten Mal ihr Taschentuch, tat, als wäre ihr ein Insekt ins Auge geflogen, rieb ihre Haut trocken, bis der Schmerz nachließ. Weder Emil noch die Kinder sollten sie weinen sehen. Zum ersten Mal seit der Enttäuschung vor fünf Jahren hatte Liesel den Namen ihrer Cousine laut ausgesprochen. Auf der Farm in Londiani hatte sie diesem spät geborenen Kind ihrer Lieblingstante Ruth die schönste Zeit ihrer Jugend verdankt. »June«, wiederholte sie leise. Die Wehmut war grell und fordernd, jeder Stachel traf. Kleine bunte Kreise schwirrten um den Kopf, machten sie benommen und die Glieder bleischwer. Der Nebel war dicht, fast weiß. Sie überlegte angestrengt, ob sie in Kenia je einen so undurchdringlichen Nebel erlebt hatte und weshalb es neuerdings in Nakuru Irrgärten gab wie in englischen Parks. In Brighton hatte die Familie einmal einen solchen Park mit Irrgarten besucht. Rose war außer sich gewesen. Sie war wie die Mutter, mochte nur gut ausgetretene Pfade, keine Abenteuer.
    Liesel Procter, die vor mehr als zwei Jahrzehnten die Schule in Nakuru mit einem glänzenden Zeugnis und exakt um-rissenen Träumen von einer ebenso glanzvollen akademischen Karriere verlassen hatte, nunmehr auf das Glücklichste verheiratet mit einem Mann, den ihr der Himmel geschickt hatte, und die nicht immer beglückte Mutter von zwei schwierigen, sehr eigenwilligen Kindern, war gewöhnlich eine Frau von Räson. Sie hatte es sich zur Lebensmaxime gemacht, so viel wie möglich und nötig nach vorn zu schauen. Dieses eine Mal gelang es ihr jedoch nicht, in der Gegenwart zu bleiben. Liesel hörte weder die vor der ehemaligen Aula weidenden Schafe blöken noch jene gnadenlose Glocke läuten, die sie in ihrem Schülerinnenleben Morgen für Morgen geweckt hatte. Wahr nahm sie nur die Gespenster von vorgestern. Wäre ihr die berühmte Fee aus dem Märchen erschienen und hätte sie nach ihrem Herzenswunsch gefragt, so hätte Liesel gefleht, ihr Gedächtnis möge auf der Stelle aufhören, wie ein Fotoapparat zu funktionieren.
    Gerade dieses Stichwort wurde zum Helfer in der Not, war Stütze und Wegweiser. Entschlossen straffte Liesel ihre Schultern; sie lächelte, als hätte sie nur Angenehmes und Überschaubares erlebt, nahm die kleine handliche Leica aus der Hosentasche und hielt sie kurz in die Höhe. Von allen Kindern und dem Lehrer beobachtet, schaute sie durch das Objektiv. Sie hob den Kopf, lächelte abermals, beugte sich zu dem Mädchen mit der Scherbe herunter und sagte: »Jetzt mache ich ein Bild von dir.«
    »Nein«, schrie die Kleine verängstigt, »ich bin kein Affe.« »Sorry«, entschuldigte sich der Lehrer. Er streichelte die weinende Schülerin, die ihr Gesicht in den Händen verbarg. Die schmalen Kinderschultern bebten. Auf dem Boden lag die Scherbe, die matte Seite nach oben. »Den Menschen hier wird immer wieder gepredigt, dass sie sich nicht fotografieren lassen sollen wie die Tiere«, erläuterte der Lehrer.
    »Sorry«, entschuldigte sich Liesel verlegen, »das hab ich nicht gewusst. Wahrhaftig nicht.«
    »Das weiß kein Tourist«, erklärte der Lehrer, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das steht auf jedem Schild in den Safariparks. Man geht davon aus, dass unsere Gäste lesen können.« Er lächelte nicht mehr.
    »Sorry«, wiederholte Liesel.
    Sie hörte ihre Mutter fragen »Warum sagst du immer Sorry, wenn du es doch nicht meinst?«, und schüttelte unwillig den Kopf. In der Ferne, am Salzsee, flogen riesige rosafarbene Wolken in ein weißes, diffuses Licht, doch Liesel wusste nicht mehr, dass rosafarbene Wolken am Himmel über Nakuru den Flug der Flamingos in Richtung Horizont bekunden. Die Bilder der Vergangenheit stürzten weiter auf sie zu. Bis vor kurzem war Liesel sicher gewesen, dass die Bilder schon vor Jahren ihre Farbe und Konturen verloren hatten. Nun aber waren sie scharf gemeißelte, leuchtende Mosaiksteine im Kaleidoskop ihrer Erinnerungen. »Nein«, wehrte sie sich, »heute nicht.«
    »Doch«, sagte Emil energisch. »Wenn jetzt nicht die Zeit dafür ist, wann dann? Herrgott, Liesel, sei doch froh. Glücklich sind die, zu denen die Wehmut kommt, denn ihnen ist eine Vergangenheit ohne Dornen gewährt worden.«
    »Das musst du mir erklären. Ich bin nur für das zuständig, was man beweisen kann«, sagte sie. »A Quadrat plus B Quadrat gleich C Quadrat und solche Kleinigkeiten«, bot sie an.
    »Hör auf mit dem Quatsch«, protestierte Rose mit einem

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