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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schulkinder verlegen und ratlos und so enttäuscht, als wäre ihnen eine spannende Geschichte erzählt und das Ende ohne Vorwarnung auf die folgende Unterrichtsstunde vertagt worden. Emil behandelte das Lenkrad so zärtlich wie sein eigenes zu Hause und rieb es mit einer Papierserviette ab, auf der »New Stanley Hotel« stand. Ein Mädchen mit winzigen bunten
    Perlen um den Hals, wie sie sonst die Massai tragen und nicht die Kikuyu, streckte verlangend seine Hand aus und seufzte Bedauern - die Serviette hatte die gleiche Farbe wie die Schuluniform der Kenyatta Primary School. Rose seufzte ebenfalls. Sie war noch immer entsetzt, dass ihr Spott ihr einen Verweis von der Mutter eingebracht hatte und ihrem Bruder väterliches Lob. Sie starrte die Straßenkarte an und sehnte sich nach Hampstead. Ihre Freundin Betsy Walker hatte Geburtstag und durfte zu Hause feiern, obwohl ihre Eltern in den Ferien nach Madeira gefahren waren. Das ganze Haus hatte Betsy für sich. Rose war sicher, dass sie das nie schaffen würde. Nicht bei der Mutter!
    »Nie«, sagte sie.
    »Doch, wir fahren gleich.«
    Die Mittagssonne hatte bereits begonnen, den Pulsschlag des Lebens zu lähmen. Die Schafe, die vor der ehemaligen Schulaula geweidet hatten, dösten im spärlichen Schatten eines Maulbeerbusches. Kleine weiße Steine glänzten wie Diamantsplitter. Vom Nakuru-See breitete sich die kaum sichtbare Wolke aus, die Liesel so gut in Erinnerung hatte, dass ihre Nase noch vor den Augen Bescheid wusste. Der Geruch von Salz war in den Jahren, die zwischen Abschied und Wiedersehen lagen, noch stärker und stechender geworden. Ein Vogel balzte, doch ohne Verlangen. Fordernd läutete die Schulglocke. Zehn Mal. Liesel zählte mit und lächelte trotz der Unruhe, die in ihr hämmerte. Es wurde noch immer zur gleichen Zeit gegessen wie vor einem Vierteljahrhundert. Schweigend und wie gehetzte Hasen liefen die Schulkinder davon. Die Haut ihrer Beine leuchtete in einem tiefen Braun. Nicht alle hatten Schuhe. Liesel erkannte, dass die Jungen und Mädchen auf das Gebäude zurannten, in dem sie selbst schon am Tisch gegessen hatte. Platz siebzehn, Tisch drei. Am Fenster. Gerade sitzen. Ellbogen an den Körper. Oder willst du vor der Tür essen? Die Nase wurde noch maliziöser als das Gedächtnis. Zwar lutschte die Schülerin von einst gerade Pfefferminz, doch sie roch fettes Hammelfleisch, das am Gaumen klebte, und weiße Rüben, die nicht gar gekocht waren.
    »Ekel hoch drei«, murmelte Liesel. Sie hustete, verschluckte sich, machte sich dennoch resolut zur Umkehr bereit und sich schließlich auch klar, dass sie sich gewiss getäuscht hatte. Afrikanische Kinder aßen bestimmt keine weißen Rüben in einer weißen Soße. Trotzdem blieb die Übelkeit. Der Lehrer stand immer noch am Ford. Als Emil ihm die Hand reichte und ihn mit »Sir« anredete, strahlte er. Beeindruckt salutierte er seinem Gesicht im Rückspiegel des Wagens. Ein wenig verlegen wurde er, als sich die Procters bei ihm bedankten, und er nicht wusste, weshalb. Das Ziel der Reise erschien ihm verfehlt. »In Londiani«, sagte er, »gibt es keine Flamingos. Nur Dreck und Löcher auf der Straße. Und ganz früher ein Gefangenencamp. Für weiße Gefangene. Sehen Sie gern Gefangene, Mister?«
    »Nein. Und die Flamingos holen wir das nächste Mal nach, ganz bestimmt«, versprach Emil.
    »Nur Gott weiß, ob es ein nächstes Mal gibt«, monierte der junge Mann. Er blies so lange auf seiner Pfeife, bis fünf kleine Jungen aus einem Gestrüpp krochen und sich mit geschlossenen Augen und auf Zehenspitzen an ihrem Lehrer vorbeidrückten.
    »Den Trick muss ich mir merken«, sagte David beeindruckt.
    Der Fahrtwind brachte keine Abkühlung. Die Luft war schwer und feucht. Zwei große Fliegen reisten mit, eine Spinne auf der Außenseite der Windschutzscheibe. Liesel überlegte, ob Moskitos auch bei Tag stachen und weshalb sie das nicht mehr wusste. In den ersten zehn Minuten der Fahrt sprach niemand. Emil drehte an den Knöpfen des Radios, aber kein Laut kam aus dem Apparat. Rose gelang es weiter, sich gleichzeitig mit einer Karte, die im Handschuhfach gelegen hatte, und mit ihrer glücklich feiernden Freundin Betsy zu beschäftigen. Sie hatte versprochen, Betsy jeden Tag eine Postkarte zu schicken, und entwarf bereits den Text - »Heute haben wir die alte Schule meiner Mutter besucht. Gähn, Gähn, Gähn«. Auf einer Karte, die ihnen der Hotelportier mit der Versicherung überlassen hatte, sie wäre soeben erst

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