Und das Glück ist anderswo
über sie wissen willst«, zwinkerte Emil.
Der muntere Ton fiel ihm leicht. Vorgebliche Munterkeit war für ihn eine Sache von langjähriger Übung, die Strategie eines Kindes, dem man selbst den Namen genommen hatte. Ab dem zehnten Lebensjahr hatte er seine Ängste, Hoffnungen und Emotionen vor einer Welt verbergen müssen, die er nicht durchschaute. Emil Procter kannte sich mit den Gesetzen der Verdrängung aus. Das schärfte sein Bewusstsein für die Menschen, die er liebte. Auch nun, mitten in der Erhabenheit einer afrikanischen Landschaft, die ihn berührte wie zuvor weder Berg noch Meer noch Wald, spürte er die Erregung und Unsicherheit seiner Frau. Sie mochte keine Begegnungen mit ihrer Vergangenheit. Emil war schon lange klar, dass daher Liesels schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter rührte. Und er war absolut auf der richtigen Spur, als er zu dem Schluss kam, dass sie wohl wieder an ihre vermaledeite kleine Cousine dachte. Er wollte ihr erklären, dass June ein koketter kleiner Satansbraten war, den man nicht ernst nehmen durfte, und dass es sich nicht lohnte, wegen einer alten Geschichte einen Tag Ferienfreude einzubüßen, aber ihm fielen nicht die passenden Worte ein. Er zuckte mit den Schultern, und nach ein paar Minuten summte er abwechselnd eine Melodie aus »My Fair Lady« und ein Marschlied aus seiner Pfadfinderzeit.
»Was«, fragte er in einer Konzertpause, »wollen wir eigentlich um diese Zeit auf eurer ehemaligen Farm? Bis wir die überhaupt gefunden haben, dürfte es Mitternacht sein. Schau doch mal in unserem klugen Reiseführer nach, ob es hier nicht irgendwo in der Nähe eine Lodge für halb verhungerte, übermüdete Idioten gibt.«
Emil hörte seine Frau seufzen. Einen Augenblick lang genoss er die Vorstellung, dass es sich um einen Seufzer der Erleichterung handelte. Dann aber folgte eine Salve von bedrängenden, beängstigenden Geräuschen - der donnernde Schlag, als der Wagen gegen einen riesigen Stein fuhr, Rose’ angstvoller Schrei und seine eigene Stimme. Die war gewaltig wie ein Orkan und doch sehr fern. Er hörte Liesel atmen, lauter als sonst, aber beruhigend gleichmäßig. Von seinen Kindern kam keine Regung. Emil wagte sich nicht, sich umzudrehen. Auch wusste er nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Er musste seine Frau um Entschuldigung bitten, dass er ihr eine Fahrt eingeredet hatte, die nun vorbei war. Für immer vorbei. Zu einem furchtbaren Ende gekommen. Er senkte den Kopf. Da hörte er Liesel sprechen.
»Ende einer Safari«, sagte sie. Ihre Stimme war ruhig, vollkommen alltäglich, sogar ein wenig amüsiert, schien es Emil. »Ist das nun ein Fluch oder ein Segen?«, fragte sie. »Weder noch, Mum«, erklärte ihr David. »Das ist eine Panne. Uns ist ein Reifen geplatzt. Ich glaube, du solltest dich mal um Rose kümmern. Sie scheint zu denken, dass sie tot ist. Und wenn sie aufwacht, mach ihr um Himmels willen klar, dass ich nicht der Erzengel Raphael bin.«
Die Tücke der Erinnerungen
London 1971, Londiani 1967
Als David im Januar 1971 ansetzte, die Weichen seines Lebens bindend zu stellen, und er außer im Bücherschrank seiner Eltern und in der Kollektion nicht mehr benutzter Koffer und Reisetaschen auch in der Garage nach Spuren seiner Jugend fahndete, stieß er auf ein paar moosgrüne Gummistiefel. Er hatte sie einen ganzen Herbst lang vergebens gesucht, ihr Verschwinden zunächst allen weiblichen Mitgliedern der Familie angelastet, dann jedoch den Verlust als einen Wink des Himmels gewertet, sich von seiner Pfadfindergruppe zu trennen und seine Freizeit endlich gemäß den eigenen Bedürfnissen zu verbringen.
Um den Schaft des linken Stiefels war ein kleiner, mehrfach verschnürter Gegenstand in Packpapier gebunden. Der entpuppte sich als ein schwarzes Holzkästchen, das sorgsam in Watte und Zeitungspapier gebettet und mit einem winzigen goldfarbenen Schloss ausgestattet war. Zwei Schlüssel, durch ein Pflaster befestigt, klebten auf dem Deckel. »Granny Gram Gramps«, murmelte David. Auf einem Paketanhänger aus dünner Pappe standen sein Name und die Adresse - in der steilen, deutlichen Handschrift seiner Großmutter, die er immer als typisch deutsch empfunden hatte. Ihr Enkel, vier Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag besonders empfänglich für seine Ver-
gangenheit, war so gerührt, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte.
Voller Verlangen nach der Unbeschwertheit seiner frühen Jugend strich er über den kleinen Kasten aus Ebenholz. Der war
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