Und das Glück ist anderswo
auszuweiten, der für immer die Grundfeste des Familienlebens erschüttern würde.
Selbst noch als Großmutter machte sich Liesel Vorwürfe, dass sie nicht auf die Gewitterwolke am Horizont mit dem Argwohn reagiert hatte, der Mütter und auf lange Sicht auch deren Töchter vor Enttäuschungen schützt. Weil ihr Mann so viel Verständnis für die Dickköpfigkeit der Jugend hatte und so geduldig und behutsam mit Rose umging, als müsste er sie vor jedem kritischen Wort und jeder Missmutsbekundung der Erfahrenen schützen, scheute sich Liesel zu lange, auf die ersten Anzeichen der Krise in der resoluten Art zu reagieren, die ihre Familie gewohnt war. Schon die Vorboten wiesen auf eine Zukunft, mit der weder sie noch Emil je gerechnet hatten.
Selbst David, der schon als kleiner Junge seine Schwester meistens als Erster zu durchschauen pflegte, wenn sie ansetzte, die Welt um ihre zarten kleinen Finger zu wickeln, war in dem einen Fall, der eine sofortige Reaktion erforderte, taub und blind. Rose war immer darauf aus gewesen, ihr Publikum in neuer Kostümierung zu verzücken. Nun hatte sie sich ohne Kleiderwechsel verändert. Es ertönte nicht der Paukenschlag, der ihr entsprochen hätte. Das Unheil schlich mit kleinen Schritten herbei, und die waren erst in ihrer Gesamtheit beängstigend. Aus dem temperamentvollen Plappermaul von überschäumender Lebensfreude war eine schweigsame junge Frau geworden. Die war oft mürrisch und grüblerisch auf eine Art, die absolut atypisch für sie war, ungerecht und unzufrieden. Gelegentlich war ihre Stimme schrill, und wurde sie angesprochen, zuckte sie zusammen, als hätten jene, die ihre Ruhe störten, sie aus fernen, schönen Welten zurückgeholt.
»Sie ist halt in der Pubertät«, meinte Emil, als Liesel schließlich doch über ihre Beobachtungen sprach. »Immer noch besser, als wenn ein junges Mädchen Drogen nimmt. Ich hab mir sagen lassen, das soll neuerdings ein Problem bei der Jugend sein.«
»In der Pubertät war sie mit vierzehn, du Traumtänzer. Mit achtzehn ist Rose kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau im heiratsfähigen Alter.«
»Um Gottes willen, sag so was nicht. So blöd kann eine Frau doch nicht sein. Mit achtzehn zu heiraten.«
»Ihre Mutter war neunzehn. Sie telefoniert auch nicht mehr stundenlang.«
»Wer, ihre Mutter?«
»Deine Tochter. Stell dich nur weiter blind und blöd und taub. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das bis in alle Ewigkeit hilft.«
»Was hilft schon bis in alle Ewigkeit?« Emils Lächeln misslang zu einer zerknirschten Grimasse; er steckte beide Daumen zwischen Hosenbund und Gürtel und wippte leicht mit den Händen. »Wahrscheinlich nur die wunderbare Orangenmarmelade von Fortnum and Mason, die du früher manchmal gekauft hast, als du noch an mich und meine Karriere als Millionär geglaubt hast.«
»Gleich dreh ich dir den Hals um.«
Emils unruhige Hände waren für Liesel noch aufschlussreicher als seine Mimik. Auch dass er so tief in die Vergangenheit eingetaucht war, in die Zeit vor Rose’ Geburt, erhärtete ihren Verdacht, dass ihr Mann von der Entwicklung stärker beunruhigt war, als er sich anmerken lassen wollte. Umso mehr rührten sie seine Witze, und wie er sich bemühte, die Gespenster, die noch ihr Gesicht verhüllten, aus dem Haus zu weisen. In kritischen Situationen hatte Emil, dem als Zehnjährigem Vater und Mutter genommen worden waren und der seitdem nie vergessen hatte, dass
Leben und Disziplin Geschwister sind, nie seinen Humor verloren. Und erst recht nicht den Kopf.
»Willst du dir selbst Mut machen, wenn du so tust, als wäre alles wie früher?«, fragte Liesel trotzdem. »Ich meine, machst du das aus Selbstschutz?«
»Aus Liebe, du Närrin. Und frag jetzt bloß nicht, wen ich liebe. Liebende wollen doch immer einander schützen. Schade, dass sie dadurch meistens alles viel schlimmer machen, als es sein müsste. Denk an Romeo und Julia. Die könnten heute noch leben.«
Telefonierte Rose tatsächlich mal mit ihrer Freundin Betsy, wurde nur noch selten ein Mann erwähnt. Seit Beendigung der Schule wurden kaum noch Verabredungen getroffen. Die jungen Männer der frühen Teenagerjahre, die fröhlichen Mitwirkenden in der Theatergruppe der Schule, die rüpeligen, gutmütigen Kameraden aus dem Schwimmklub, die verlegenen Tanzpartner mit Schuhen, die alle aussahen, als wären sie eine Nummer zu klein, und die langjährigen, frühreifen Weggenossen in der jüdischen Religionsschule, denen die kichernde,
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