Und das Glück ist anderswo
Pascal wahrhaftig nie gedacht, dass er sich noch einmal mit dem Film beschäftigen würde. Aus irgendeinem Grund, den er absolut nicht zu analysieren vermochte und dies auch nicht wollte, sah er nun immer wieder die Filmszene mit dem gekenterten Ruderboot vor sich und wie das Wasser von einer Sekunde zur nächsten so unbeweglich gewesen war, als wäre nichts geschehen. Einmal, als er sich ziemlich erschöpft von Rose verabschiedet hatte, aber noch bei Madame auf ein Glas vorbeigegangen war, war Pascal, der keine Erfahrung im Grübeln hatte, so weit gegangen, wie ein Dorftrottel in die Luft zu stieren und blöde zu fragen: »Wer fährt schon auf dem Mittelmeer im Ruderboot spazieren?«
»Ich meine, du hast jetzt ganz andere Sorgen, Pascal«, hatte die kluge Beraterin ihn gerügt.
Pascal war immun gegen Illusionen. Er war ein junger, gut aussehender Mann mit Grips und Ellbogen, und er wusste, eben weil er keinen reichen Onkel hatte, dass er beide nutzen musste, um nach oben zu kommen. Im Leben dieses Ellbogenmannes war weder Platz für gute noch für böse Träume. Auch ohne das Filmende mit dem elektrischen Stuhl zu bedenken, hätte Pascal keine Mordpläne geschmiedet. Es erschien ihm nur unendlich verlockend, so wunderbar einfach, auch so logisch für einen Mann in einer Zwangslage, die Frau, die ihn in eine solche Situation gebracht hatte, so unauffällig wie möglich loszuwerden. »Du musst«, riet ihm Madame, »nicht immer am falschen Ende anfangen. Ein Problem beginnt am Kopf. Bringe erst mal die Dinge ins Rollen. Meistens erledigt sich der Rest von selbst.«
Am Abend, der diesem mütterlichen Rat folgte, setzte Pascal, im Ton ganz ruhig und in der Sache sehr beharrlich, Rose auseinander, dass er sie nicht heiraten würde, weil ihn sonst seine Familie, an der er mehr hing als an seinem eigenen Leben, verstoßen würde. »Meine Eltern«, erzählte Pascal, der mehr als die Hälfte seines Lebens Halbwaise gewesen war und seine Mutter seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, »sind sehr fromm. Es würde die alten Leutchen umbringen, wenn ich außerhalb meines Glaubens heirate.«
»Da«, entgegnete Rose mit einem noch sehr jungen Sinn für Ironie, der ihren Bruder David über alle Maßen verwirrt hätte, »haben wir etwas gemeinsam. Meine Eltern sind zwar kein bisschen fromm und auch nicht sehr alt, aber es würde sie ebenfalls umbringen, wenn ich außerhalb meines Glaubens heirate.«
Bei dem Gespräch, das sie ein Leben lang vergebens versuchen sollte, aus ihrem Gedächtnis zu tilgen, machte sie noch einen allerletzten Versuch, ihren Familienstand zu verändern. Rose presste ihre Hand auf den Leib, in dem sich das werdende Leben stürmisch regte, und schloss die Augen. Als sie diese schönen, immer noch sehr unschuldigen Augen wieder öffnete, belog sie zum ersten - und einzigen - Mal den Mann, der ein glückliches Mädchen zu einer werdenden Mutter gemacht hatte. »Mir ist es aber«, schluckte sie, »ganz egal, was meine Familie sagen würde, wenn ich dich heirate. Es geht nur um uns. Und um unser Kind.«
Pascal schüttelte so leicht den Kopf, dass selbst er die Luftbewegung nicht spürte. Dann erwähnte er, auch mit einigen französischen Worten, die Rose nicht verstand, deren Bedeutung sie jedoch erahnen konnte, dass er künftig leider auch die Miete für ihr Zimmer nicht mehr würde aufbringen können. »Madame Versagne«, tröstete er aber mit der samtenen Stimme, die Rose als Erstes an ihm aufgefallen war, »hat Verständnis für deine Lage, Chérie. Sie hat mich eigens gebeten, dir zu sagen, dass sie auf alle Forderungen verzichtet, wenn du innerhalb der nächsten beiden Wochen abreist. Und mach dir bloß keine Sorgen. Ich kriege im Hotel bestimmt frei, um dich zum Bahnhof zu bringen.«
In dieser Nacht konnte Pascal nur nach zwei Doppelgläsern Cognac einschlafen. Er erwachte mit Kopfschmerzen und einem Hautausschlag, der Monsieur Pierrot zu einem recht degoutanten Scherz veranlasste. Seine geliebte Großmutter hätte ihm erzählen können, dass er schon als Schuljunge zu Hautausschlägen geneigt hatte, wenn er eine Strafe befürchtete. Er dachte, während er eine Ente mit grobkörnigem Salz einrieb - eine andere Arbeit ließ ihn Monsieur Pierrot wegen seiner unappetitlichen Pickel nicht verrichten - an den väterlichen Rohrstock und wünschte sich trotzdem, er wäre wieder neun Jahre alt. Rose trank nur Wasser. Sie nahm sich vor, die letzte Nacht ihres Lebens bei klarem Bewusstsein zu verbringen,
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