Und das Glück ist anderswo
doch schließlich schlief sie doch auf der zu schmalen Couch ein. In Abständen, die gegen Morgen immer kürzer wurden, wurde ihr klar, dass sie sich nicht aus dem Leben wegstehlen wollte, ohne den Ihrigen zu erklären, was sie dazu bewogen hatte. Vor allem war es ihr, was sie in dem Moment, da ihr der Einfall kam, sogar sehr belebend fand, darum zu tun, ihren Eltern noch einmal etwas sehr Wichtiges zu sagen - sie hatte die schöne Afrikareise mit dem Marabu am Frühstückstisch und dem Kopf des schwarzweißen Hundes auf ihrem Schoß nie vergessen können. Am Morgen machte sich Rose, die einmal ein leichtfüßiges junges Mädchen mit bunten Träumen von einem überschäumenden Lebensglück gewesen war, in ein kleines Geschäft auf, in dem es Briefpapier in einzelnen Bögen zu kaufen gab. Ihr war daran gelegen, dass der letzte Brief ihres Lebens nicht auf einem Blatt kariertem Papier geschrieben wurde, das einem alten Schulheft entstammte.
Um genau zwölf Uhr mittags schrieb Rose Procter nach London. Allerdings schrieb sie weder ihren Eltern, die täglich um ihre Rückkehr beteten, noch schrieb sie ihrer Großmutter oder ihrem Bruder, die das Gleiche vom Himmel erflehten. Rose’ Brief ging an Mister Bronstein im Londoner Stadtteil Golders Green. Ausgerechnet auf der schönen weißen Bank auf der Promenade des Anglais, auf der Rose immer gesessen hatte, obwohl die Bank zu nahe am Negresco war und Pascal jede Komplikation vermeiden musste, war der verzweifelten jungen Frau die glückhafte Erkenntnis gekommen, dass sie doch nicht sterben wollte.
Samy, das begriff sie erst jetzt, war der einzige Mensch, vor dem sie sich nicht zu schämen brauchte. Er hatte ja Erfahrungen mit trotzigen Töchtern und war, außer ihrem Vater, der gütigste Mensch, den sie kannte - nur hatte er sehr viel bessere Nerven als der Vater. So wandte sich Rose an den Mann, der ihrer Großmutter das Wunder der Liebe beschert hatte. Es wurde der längste Brief, den sie je geschrieben hatte. Bis zu den Schlussworten »deine dumme, dumme Rose« dauerte es fast zwei Tage. Ihr war klar, wenn sie Samy um Hilfe bat und er ihr vielleicht das Geld für eine Rückfahrkarte in die Geborgenheit ihres Elternhauses schickte, hatte er das Recht, über jede Einzelheit aufgeklärt zu werden.
Ihre Schwangerschaft erwähnte sie nur andeutungsweise; sie berichtete von ihrer enormen Gewichtszunahme und dass ihre Jeans nicht mehr zugingen. Dass sie den jungen Mann nie mehr sehen wollte, um dessentwillen sie abgereist war, machte die tapfere Chronistin durch Unterstreichungen und Ausrufezeichen deutlich. Als Rose das Couvert adressierte, staunte sie sehr, dass sie sowohl Samys Nachnamen als auch seine Anschrift kannte. Im letzten Moment machte sie doch noch einen schwerwiegenden Fehler: Sie unterließ es, die Adresse anzugeben, an die Samys Hilfsangebote zu richten waren.
Merci, Minouche!
London, Nizza, 1971
Es war ein Donnerstag im Juni, als das graue Couvert mit den französischen Briefmarken und dem Poststempel aus Nizza eintraf. Da die Absenderin - schon durch ihre immer noch kindliche Schrift - auf einen Blick zu identifizieren war, fiel es dem Empfänger zunächst nicht als unangenehm auf, dass sie es unterlassen hatte, auf dem Briefumschlag Namen und Adresse anzugeben. Später erinnerte sich Martha allerdings, dass der Tag bereits ein wenig absonderlich begonnen hatte - mit vergessenen Karotten und einer ungewöhnlich frühen Postzustellung. Sowohl sie als auch Samy hatten nämlich seit Wochen gemutmaßt, der Briefträger würde lediglich nur dann bei ihnen vorbeischauen, wenn es seine Trinkgewohnheiten zuließen.
Rose’ Schrift löste zunächst keine Angstgefühle aus, und das bei Menschen, die beide schworen, dass ihr Instinkt für das Ungewöhnliche sie nie im Stich ließ. »Es war«, rekapitulierte Martha, als sie wieder ohne Panik zurückschauen und ohne Furcht einen Brief öffnen konnte, »ein wunderschöner Sommermorgen, so einen, wie man ihn sich immer im Dezember wünscht. Den Duft der Nelken werde ich noch lange riechen. Und trotzdem hätte ich merken müssen, dass etwas im Busch war. Ich hab mein Leben lang doch nicht vergessen, die Karotten für den Fisch zu kaufen.«
In Samys auf Hochglanz geputzter Küche mit den lindgrünen Gardinen, auf denen Gänseblümchen blühten wie in den uralten Zeiten auf der Wiese vor der Mädchenschule in Cham, putzte die Katze zufrieden ihre Barthaare. Das tat Mieze immer, wenn die Düfte vom Herd eine
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