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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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stelle sie zu einer Krankenschwester durch«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.
    » Beeilen Sie sich! «, schrie ich ins Telefon und in Max’ Ohr.
    Die Krankenschwester sagte mir, ich solle Max nach vorne halten, genau wie auch Dr. Spock geschrieben hatte, und ihm ein Handtuch an die Nase halten. Ich bat sie dranzubleiben und tat, was sie gesagt hatte, und diesmal schien das Bluten nachzulassen. »Es funktioniert«, rief ich in den Hörer. »Es funktioniert«, wiederholte ich.
    »Gut«, sagte die Krankenschwester zu mir. »Und jetzt beobachten Sie ihn die nächsten Stunden. Wenn er zufrieden wirkt und ganz normal isst, dann müssen Sie ihn nicht zu uns bringen.«
    Bei diesen Worten brach eine Flut der Erleichterung über mich herein. Ich wusste nicht, wie ich ihn je allein zum Arzt hätte bringen sollen. Ich schaffte es mit ihm ja kaum aus dem Viertel hinaus.
    »Und überprüfen Sie seine Pupillen«, fuhr die Krankenschwester fort. »Sie dürfen weder erweitert noch unterschiedlich groß sein. Das würde auf eine Gehirnerschütterung hindeuten.«
    »Eine Gehirnerschütterung«, flüsterte ich, was über Max’ Schreie hinweg jedoch nicht zu hören war. »Ich habe das nicht mit Absicht gemacht«, sagte ich zu der Krankenschwester.
    »Natürlich nicht«, versicherte mir die Krankenschwester. »Niemand macht das absichtlich.«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, schrie Max noch immer so laut, dass er an seinem Schluchzen zu ersticken drohte. Ich zitterte am ganzen Leib und rieb ihm den Rücken. Dann versuchte ich, ihm zumindest einen Teil des geronnenen Blutes um die Nase herum abzuwaschen, damit er wieder besser atmen konnte. »Es tut mir ja so leid, Max«, flüsterte ich heiser. »Es war nur eine Sekunde. Länger habe ich dich nicht aus den Augen gelassen. Ich wusste nicht, dass du dich so schnell bewegen würdest.« Max’ Schreie ebbten ab, wurden aber sofort wieder lauter. »Es tut mir so leid.« Ich wiederholte die Worte wie ein Wiegenlied. »Es tut mir so leid.«
    Ich trug Max ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und ließ ihn in den Spiegel schauen – alles Dinge, die ihn für gewöhnlich beruhigten. Als Max jedoch nicht darauf reagierte, setzte ich mich auf den Toilettendeckel und drückte ihn eng an mich. Ich hatte auch geweint. Es waren hohe, jammernde Töne, die sich schrill mit Max’ Schreien mischten. Es dauerte einen Augenblick, bis ich schließlich bemerkte, dass ich die Einzige war, die noch ein Geräusch von sich gab.
    Max lag vollkommen still an meiner Schulter. Ich stand auf und ging zum Spiegel, obwohl ich Angst hatte hineinzusehen. Max hatte die Augen geschlossen, und sein Haar war schweißnass. Seine Nase war mit getrocknetem Blut verklebt, und zwei blaue Flecken verdunkelten die Haut unter seinen Augen. Ich schauderte, als mir plötzlich der Gedanke kam, dass ich genau wie diese Frauen war. Ich hatte mein Kind getötet.
    Noch immer schluchzend trug ich Max ins Schlafzimmer und legte ihn auf die kühle blaue Tagesdecke. Ich seufzte vor Erleichterung: Sein Rücken hob und senkte sich. Er atmete und schlief. Und sein Gesicht war zwar brutal entstellt, strahlte aber dennoch einen engelsgleichen Frieden aus.
    Zitternd legte ich den Kopf in die Hände. Ich hatte gewusst, dass ich keine allzu gute Mutter sein würde, aber ich hatte angenommen, dass Unwissenheit und Vergesslichkeit meine größten Sünden sein würden. Dass ich meinen eigenen Sohn jedoch verletzen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Jeder andere hätte das Kind in aller Ruhe auf den Arm genommen und dann erst das Lätzchen aufgehoben. Ich war ja so dumm gewesen. Und wenn mir das einmal passiert war, dann konnte es auch wieder geschehen.
    Plötzlich erinnerte ich mich an meine Mutter in jener Nacht, bevor sie verschwunden war. Sie hatte einen hellen pfirsichfarbenen Bademantel und ausgefranste Häschenpantoffeln getragen. Sie saß auf meiner Bettkante. »Du weißt, dass ich dich liebe, Paige«, sagte sie in dem Glauben, ich würde schlafen. »Lass dir nie von jemandem etwas anderes erzählen.«
    Sanft streichelte ich meinem Sohn den Rücken, um so seine Atmung wieder zu beruhigen. »Ich liebe dich«, sagte ich und schrieb mit dem Finger die Buchstaben seines Namens auf den Strampler. »Lass dir nie von jemandem etwas anderes erzählen.«
*
    Max wachte lächelnd auf. Ich hatte mich über seine Wiege gebeugt, wie ich es schon seit einer Stunde tat, in der er geschlafen hatte. Und zum ersten Mal seit seiner Geburt hatte ich

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