Und dennoch ist es Liebe
eine halbe Meile schwimmen, ohne müde zu werden – zumindest früher einmal. Ich kannte die Namen der bedeutendsten Friedhöfe von Chicago. Ich wusste, wie man Stromkabel auftrennt. Ich wusste, wie sich unsere Hypothekenrate zusammensetzte. Ich wusste, welche Buslinie zum Flughafen fuhr. Ich konnte Spiegelei machen und es ohne Pfannenheber wenden, und ich konnte meinen Mann zum Lachen bringen.
Es klingelte an der Tür. Ich stopfte die Liste in meine Tasche und klemmte mir Max unter den Arm. Nach dem Artikel über die Killermütter wollte ich ihn nicht alleine lassen. Durch das dünne Buntglas des Türfensters hindurch sah ich deutlich die braune Uniform des UPS-Mannes. »Hallo«, sagte ich. »Schön, Sie zu sehen.«
Seit Nicholas seiner Mutter erzählt hatte, sie habe einen Enkelsohn, kam der Paketdienst häufig vorbei. Astrid schickte uns große Pakete voll mit Büchern von Dr. Seuss und Babykleidung von Dior. Einmal hatte sie uns sogar ein großes Holzpferd geschickt. Und all das tat sie vermutlich nur aus einem einzigen Grund: Sie wollte sich so die Liebe von Nicholas und Max erkaufen. Ich mochte den UPS-Mann. Er war jung, und er nannte mich Ma’am, und er hatte sanfte braune Augen und ein verträumtes Lächeln. Manchmal, wenn Nicholas Bereitschaftsdienst hatte, war der Paketbote über Tage hinweg der einzige Erwachsene, den ich sah. »Hätten Sie vielleicht gerne einen Kaffee?«, fragte ich. »Es ist noch früh.«
Der UPS-Mann grinste mich an. »Danke, Ma’am«, erwiderte er, »aber ich kann nicht – nicht im Dienst.«
»Oh«, sagte ich und trat einen Schritt zurück. »Ich verstehe.«
»Es muss ziemlich hart sein«, bemerkte er.
Ich blinzelte ihn an. »Hart?«
»Mit einem Baby und so. Meine Schwester hat auch grad eins bekommen, und sie sagt, es sei schlimmer als hundert Siebtklässler im Frühling.«
»Nun«, erwiderte ich, »da hat sie vermutlich recht.«
Der UPS-Mann wuchtete das Paket in unser Wohnzimmer. »Brauchen Sie Hilfe beim Aufmachen?«
»Ich komme schon zurecht.« Ich zuckte mit den Schultern und lächelte leicht. »Trotzdem danke für das Angebot.«
Der Mann tippte sich an seine verschlissene braune Mütze und verschwand durch die offene Tür. Ich hörte seinen Truck die Straße hinuntertuckern, dann setzte ich Max neben dem Paket auf den Boden. »Dass du mir ja nirgendwo hingehst«, sagte ich zu ihm. Rückwärts ging ich Richtung Küche, wirbelte dann herum und lief los, um ein Messer zu holen. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Max sich auf die Hände aufgerichtet wie eine Sphinx. »Hey«, sagte ich, »das ist ja schon ziemlich gut.« Und ich wurde rot. Es freute mich einfach, endlich mal einen Entwicklungsschritt als Erste zu sehen. Sonst hatte nämlich immer Nicholas das Glück.
Max schaute zu, wie ich das Paketband durchschnitt und die Klammern herausriss. Er angelte sich ein Stück Schnur und versuchte, es sich in den Mund zu stecken. Ich legte das Messer neben die Couch und hob einen kleinen Hocker aus dem Paket, in den große gelbe Buchstaben eingelassen waren, die zusammen MAX ergaben und die man herausnehmen konnte wie Puzzleteile. ›In Liebe, Oma und Opa‹, stand auf der beiliegenden Karte. Irgendwo hatte Max noch eine Oma und noch einen Opa, und ich fragte mich, ob er auch nur einen von ihnen je kennenlernen würde.
Ich stand auf, um den Karton wegzuwerfen, doch dann sah ich noch ein kleineres pinkfarbenes Päckchen darin. Es war am Boden des größeren festgeklebt. Ich brach die Siegel aus Goldfolie an den Seiten und öffnete es. Ein wunderschöner Seidenschal lag darin, bedruckt mit Bildern von Pferdetrensen aus Messing und silbern schimmernden Hufeisen. ›Für Paige‹, stand auf der Karte dazu, ›weil nicht nur das Baby Geschenke verdient hat. Mutter.‹ Ich dachte darüber nach. Astrid Prescott war nicht meine Mutter, das würde sie nie sein. Kurz verschlug es mir den Atem. War es möglich, dass meine echte Mutter – wo auch immer sie sein mochte – mir diesen Schal über die Prescotts geschickt hatte? Ich fühlte die Seide, hielt sie mir an die Nase und roch den Duft einer edlen Boutique. Der Schal war von Astrid, das wusste ich, und ich bekam ein Kribbeln im Bauch, weil sie an mich gedacht hatte. Trotzdem beschloss ich, nur für heute so zu tun, als wäre der Schal ein Geschenk von meiner Mutter, die ich nie wirklich kennengelernt hatte.
Max, der noch nicht einmal richtig krabbeln konnte, hatte sich trotzdem irgendwie zu dem Messer geschlängelt.
Weitere Kostenlose Bücher