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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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einfangen, wie seine Augen in die Welt schauten, als wäre es immer wieder das erste Mal. Und ohne diesen Aspekt war ein Bild von Max einfach kein Bild von Max. Dann versuchte ich, mir Nicholas vorzustellen, doch das Ergebnis war das Gleiche. Seine feine Adlernase, das dichte, glänzende Haar … All das kam und ging in Wellen, als würde ich ihn durch die Oberfläche eines Teichs hindurch beobachten. Als ich die Zeichenkohle aufs Papier setzte, passierte nichts. Und plötzlich erschreckte es mich, wie laut der Knall gewesen war, als Nicholas den Telefonhörer aufgelegt hatte. Es war durchaus möglich, dass Nicholas in diesem Moment jede Verbindung zwischen uns abgebrochen hatte … genau wie Jake vor ihm.
    Fest entschlossen, nicht zu weinen, starrte ich auf den See hinaus und begann, die Zeichenkohle über das leere Blatt Papier zu bewegen. Diamanten aus Sonnenlicht und sich verändernden Strömungen erschienen. Obwohl die Zeichnung Schwarz und Weiß war, konnte man deutlich erkennen, wie blau das Wasser war. Aber während ich zeichnete, wurde mir bewusst, dass ich nicht den Michigansee zu Papier brachte. Ich zeichnete das Meer, den karibischen Ring, der um die Kaimaninseln floss.
    Als ich zwölf war, war ich einmal mit meinem Vater auf die Kaimaninseln zu einer Erfindermesse geflogen. Er hatte den größten Teil unserer Ersparnisse für die Tickets ausgegeben. Dort angekommen, baute er seinen Stand auf. Er stellte die falschen Steine aus, die er erfunden hatte, die mit den Geheimfächern unten, in die man einen Schlüssel legen konnte, um ihn unauffällig im Vorgarten zu deponieren. Die Messe dauerte zwei Tage, und ich hatte genug Zeit, mich am Strand herumzutreiben. Ich machte Schneeengel in dem weißen Sand und schnorchelte an den Korallenriffen. Am dritten Tag, unserem letzten, saß mein Vater auf einem Liegestuhl am Strand. Er wollte nicht mit mir ins Wasser gehen, nach dem langen Tag wolle er lieber in der Sonne sitzen, sagte er. Also ging ich allein ins Meer, und zu meiner Überraschung schwamm plötzlich eine Meeresschildkröte neben mir. Sie war sechzig Zentimeter lang und war an der Flosse markiert. Sie hatte schwarze Knopfaugen und ein ledriges Lächeln, und ihr Panzer war gewölbt wie der Horizont. Sie schien mich anzugrinsen, und dann schwamm sie weg.
    Ich folgte ihr, kam jedoch nie näher als ein paar Armzüge an sie heran. Als die Schildkröte schließlich hinter einer Korallenwand verschwand, ließ ich mich auf dem Rücken treiben, weil ich Seitenstechen hatte. Und als ich die Augen öffnete, war ich mindestens eine Meile von meinem Ausgangspunkt entfernt.
    Langsam und mit regelmäßigen Schwimmzügen schwamm ich wieder zurück, und als ich ankam, war mein Vater außer sich vor Wut. Er fragte, wo ich gewesen sei, und als ich es ihm erzählte, sagte er, das sei dumm von mir gewesen. Doch ich ging trotzdem wieder ins Meer in der Hoffnung, die Schildkröte noch einmal zu finden. Aber das Meer ist natürlich groß, und die Schildkröte war längst fort, doch schon mit zwölf war mir klar gewesen, dass ich es wenigstens versuchen musste.
    Ich legte die Zeichnung beiseite. Eine vertraute Atemlosigkeit setzte ein, als ich das Bild fertig hatte. Es war, als wäre ich von einem Geist besessen gewesen und käme jetzt erst wieder zu mir. Mitten in den Michigansee hatte ich die fortschwimmende Schildkröte gezeichnet. Ihr Panzer bestand aus hundert Sechsecken. Und ganz schwach hatte ich in eines der Vielecke meine Mutter gezeichnet.
*
    Noch bevor ich in mein altes Viertel kam, wusste ich, dass ich nicht lange genug bleiben würde, um mich an all die Dinge aus meiner Kindheit zu erinnern, die irgendwo in meinem Geist vergraben waren. Ich würde nicht genug Zeit haben, mich an den Namen der jüdischen Bäckerei zu erinnern, bei der es immer frische Zwiebelbagel gab. Ich würde nur so lange bleiben, wie ich brauchte, um die Informationen zu sammeln, die ich benötigte, um meine Mutter zu finden.
    Ich erkannte, dass ich auf eine gewisse Art schon immer versucht hatte, sie zu finden. Nur hatte nicht ich sie, sondern sie mich gejagt. Wann immer ich über die Schulter schaute, war sie dagewesen und hatte mich daran erinnert, wer ich war und wie ich zu dieser Person wurde. Bis zu diesem Tag hatte ich geglaubt, sie sei der Grund dafür gewesen, dass ich Jake verloren hatte, der Grund, warum ich von Nicholas weggelaufen war, und der Grund, warum ich Max im Stich gelassen hatte. Ich betrachtete sie als Ursache für alle

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