Und dennoch ist es Liebe
»Das war ein Kinderspiel«, sagte Eddie und stocherte sich mit einem Brieföffner in den Zähnen herum. »Nachdem ich erst mal wusste, wer sie war, hatte ich sie schon so gut wie gefunden.«
Meine Mutter hatte Chicago unter dem Namen Lily Rubens verlassen. Die echte Lily war drei Tage zuvor gestorben. Meine Mutter hatte ihren Nachruf geschrieben. Lily Rubens war fünfundzwanzig Jahre alt gewesen und meiner Mutter zufolge ›nach langer, schwerer Krankheit‹ gestorben. Meine Mutter hatte Kopien von Lilys Führerschein, ihrer Sozialversicherungskarte und sogar von ihrer Geburtsurkunde. Mom war nicht nach Hollywood gefahren. Stattdessen war sie irgendwie in Wyoming gelandet, wo sie für Billy DeLite’s Wild West Show gearbeitet hatte. Sie war Saloontänzerin gewesen, bis Billy DeLite persönlich sie beim Cancan gesehen und sie dazu überredet hatte, Calamity Jane zu spielen. Dem Fax zufolge, das Billy an Eddie geschickt hatte, hatte sie Schießen und Reiten gelernt, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht. Fünf Jahre später, im Jahr 1977, war sie mitten in der Nacht mit dem talentiertesten Rodeoreiter der Show und den gesamten Einnahmen des letzten Tages verschwunden.
Dann folgte eine Lücke in Eddies Bericht, bis meine Mutter in Washington D. C. wieder auftauchte, wo sie eine Zeit lang Umfragen für Verbraucherzeitschriften gemacht hatte. Dabei hatte sie sich genug Geld zusammengespart, um einem Mann namens Charles Crackers ein Pferd abkaufen zu können, und da sie zu der Zeit in Chevy Chase in einer kleinen Wohnung lebte, ließ sie das Pferd in Crackers’ Stall und kam dreimal die Woche zum Reiten.
Weiter hieß es in dem Bericht, irgendwann sei sie von Chevy Chase nach Maryland gezogen. Mehrmals hatte sie die Jobs gewechselt und einmal sogar im Wahlkampfbüro eines demokratischen Senators gearbeitet. Als der Senator nicht wiedergewählt wurde, verkaufte sie ihr Pferd und kaufte sich ein Flugticket nach Chicago, das sie aber nicht direkt in Anspruch nahm.
Tatsächlich war sie in den letzten zwanzig Jahren nie zum Vergnügen gereist … außer einmal. Am 10. Juni 1985 kam sie tatsächlich nach Chicago. Sie stieg im Sheraton ab und meldete sich dort als Lily Rubens an. Eddie schaute mir über die Schulter, als ich diesen Teil des Berichts las. »Was war am 10. Juni?«, fragte er.
Ich drehte mich zu Jake um. »Mein Highschool-Abschluss.« Ich versuchte, mir jede Einzelheit ins Gedächtnis zurückzurufen: die weißen Gewänder und Hüte, die alle Mädchen von Pope Pius getragen hatten; die glühende Hitze, die das Sitzen auf den Metallstühlen fast unerträglich gemacht hatte, und Vater Draher, der uns gepredigt hatte, dass wir fortan Gott in einer sündigen Welt dienen müssten. Und ich versuchte mich an die Gesichter all der Zuschauer zu erinnern, die auf den Tribünen gesessen hatten, doch es war einfach zu lange her. Am Tag nach meinem Abschluss hatte ich mein Heim verlassen. Meine Mutter war zurückgekommen, um mich aufwachsen zu sehen, und fast hatte sie mich verpasst.
Eddie Savoy wartete, bis ich zur letzten Seite des Berichts kam. »Da ist sie jetzt schon seit acht Jahren«, sagte er und deutete auf eine Stelle, die er auf der Karte von North Carolina markiert hatte. »Das ist Farleyville. Eine genaue Adresse habe ich allerdings nicht, und sie steht auch nicht im Telefonbuch. Aber dort hatte sie ihre letzte, gemeldete Arbeitsstelle. Das war vor fünf Jahren, doch irgendetwas sagt mir, dass es kein Problem sein sollte, sie in einem Kaff zu finden, das kaum größer ist als ein Klo.« Ich schaute auf Eddies hingekritzelte Notizen. Er verzog das Gesicht und hockte sich hinter den niedrigen Couchtisch, der ihm als Schreibtisch diente. Er gab mir einen abgerissenen Notizzettel, auf den er ›Bridal Bits‹ geschrieben hatte. »Ich nehme an, das ist irgend so ein Salon für Brautmoden«, sagte er. »In jedem Fall kannte man sie dort ziemlich gut.«
Ich dachte an meine Mutter, die abgesehen von der Affäre mit dem Cowboy offenbar immer Single gewesen war, und ich fragte mich, was sie wohl dazu bewegt haben könnte, in ein Kuhdorf in North Carolina zu ziehen, um dort in einem Brautmodengeschäft zu arbeiten. Ich stellte mir vor, wie sie zwischen dem weißen Spitzenstoff, den blauen Strumpfbändern und den bestickten Pumps herumging und sie berührte, als hätte sie das Recht dazu, sie zu tragen. Als ich den Blick wieder hob, schüttelte Jake Eddie Savoy die Hand. Ich griff in meine Börse
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