Und dennoch ist es Liebe
herein, setzte sich im Dunkeln und drückte mir zwanzig Cent Fahrgeld in die Hand. Dann holte sie einen Stadtplan und eine Taschenlampe heraus und ließ mich wiederholen: Michigan und Van Buren Street, Downtown. Eins, zwei, drei, vier Haltestellen, und Mommy ist da. Ich sagte das immer und immer wieder, bis ich es genauso gut konnte wie mein Abendgebet. Meine Mutter verließ den Raum und ließ mich schlafen. Um vier Uhr morgens wachte ich wieder auf und sah ihr Gesicht dicht über mir. Ich spürte ihren Atem auf meinen Lippen. »Sag es«, befahl sie mir, und mein Mund formte die Worte, die mein verschlafenes Gehirn nicht hören konnte. Michigan und Van Buren Street, Downtown. Überrascht, wie gut ich das gelernt hatte, riss ich die Augen auf. »Das ist mein Mädchen«, sagte meine Mutter stolz und nahm mein Gesicht in die Hände. Dann drückte sie mir den Finger auf den Mund. »Und sag deinem Daddy nichts davon«, flüsterte sie.
Schon damals kannte ich den Wert eines Geheimnisses. Das ganze Frühstück über mied ich den Blick meines Vaters. Als meine Mutter mich an der Schule absetzte, glitzerten ihre Augen fiebrig. Einen Augenblick lang sah sie so anders aus, dass ich unwillkürlich an Schwester Albertas Vorträge über den Teufel denken musste. »Wozu soll das alles gut sein, so ganz ohne Risiko?«, sagte meine Mutter zu mir. Und ich drückte mein Gesicht an ihres, um sie zum Abschied zu küssen, wie ich es immer tat, doch diesmal flüsterte sie mir zu: »Eins, zwei, drei, vier Haltestellen. Dann bist du da.«
An jenem Morgen rutschte ich nervös auf meinem Stuhl herum und malte das Bild von Jesus falsch aus, so aufgeregt war ich. Als die Schwester uns schließlich rausließ und einen raschen Segen sprach, bog ich nach links ab, in eine Richtung, in die ich niemals ging. Ich marschierte immer weiter, bis ich die Ecke Michigan und Van Buren erreichte und die Apotheke sah, von der meine Mutter gesprochen hatte. Ich stand unter dem Haltestellenschild, und als der große Bus neben mir anhielt, fragte ich den Fahrer: »Downtown?«
Er nickte, nahm meine zwanzig Cent, und ich setzte mich vorne auf einen Sitz und schaute weder rechts noch links, wie meine Mutter gesagt hatte, denn dort könnten böse Männer oder der Teufel höchstpersönlich sein. Ich kniff die Augen zu, lauschte dem Grummeln des Motors und dem Quietschen der Bremsen, und ich zählte die Haltestellen. Als die Tür sich zum vierten Mal öffnete, sprang ich auf und warf einen ganz flüchtigen Blick auf den Sitzplatz neben mir, doch ich sah nur altes, blaues Vinyl und das Gitter der Klimaanlage. Ich stieg aus, wartete, bis die anderen Passagiere sich verlaufen hatten, und schirmte meine Augen vor der Sonne ab. Meine Mutter kniete vor mir. Sie hatte die Arme ausgebreitet und grinste über das ganze Gesicht. »Paige«, sagte sie und schlang ihren roten Regenmantel um mich, »ich wusste, dass du kommen würdest.«
*
Ich fragte einen älteren Mann, der auf einer Milchkanne neben der Straße hockte, ob er schon mal von Farleyville gehört habe. »Jep«, sagte er und deutete die Straße hinunter. »Sie sind fast da.«
»Nun«, sagte ich, »haben Sie vielleicht auch von einem Salon mit Namen ›Bridal Bits‹ gehört?«
Der Mann kratzte sich die Brust. Er lachte, und da sah ich, dass er keine Zähne mehr hatte. »Ein Salon «, erwiderte er spöttisch. »Also ob das ein Salon ist …«
Ich blickte ihn finster an. »Sie könnten mir wenigstens sagen, wo es ist.«
Der Mann grinste mich an. »Wenn das der Ort ist, von dem ich denke, dass er es ist – und ich wette, das ist er nicht –, dann nehmen sie am Weizenfeld die erste rechts und fahren weiter bis zu einem Angelgeschäft. Von da sind es noch drei Meilen auf der linken Seite.« Er schüttelte den Kopf, als ich wieder in den Wagen stieg. »Sie haben doch wirklich Farleyville gesagt«, fragte er, »oder?«
Ich folgte seinen Richtungsangaben und machte dabei nur einen Fehler, da ich ein Weizen- nicht von einem Tabakfeld unterscheiden konnte. Das Angelgeschäft war nicht mehr als eine Bretterbude mit einem Holzschild an der Tür, auf das irgendjemand einen Fisch gemalt hatte. Ich fragte mich, warum Leute so weit rausfahren sollten, um sich für ihre Hochzeit einzukleiden. Raleigh wäre doch sicher ein besserer Ort dafür gewesen. Und ich fragte mich, ob das Geschäft meiner Mutter vielleicht ein Secondhandladen war und wie sie in dieser Gegend überhaupt damit überleben konnte.
Das einzige Gebäude drei
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