Und dennoch ist es Liebe
er auch an zu krabbeln.« Nicholas starrte auf das flaumige schwarze Haar seines Sohnes. Er drückte mit dem Finger zu und ließ Max mit seinem brandneuen Zahn zubeißen. Dann schaute er zum Himmel hinauf – es war keine Wolke zu sehen –, und schließlich ließ er auch die Frauen Max’ Gaumen abtasten. Paige hätte mit Sicherheit dabei sein wollen , dachte er plötzlich und spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte. Paige hätte dabei sein müssen!
K APITEL 25
P AIGE
Ich war noch nie dort gewesen, doch so stellte ich mir Irland vor, wenn ich an die Geschichten meines Vaters dachte: üppige, smaragdgrüne Hügel, Gras wie ein dicker Teppich und Farmen an den Hängen, die von robusten Steinmauern umgrenzt wurden. Mehrmals hielt ich an, um aus einem Bach zu trinken, der sauberer und kälter war, als ich mir je hätte vorstellen können. Ich hörte die Stimme meines Vaters im Plätschern des Wassers, und ich konnte diese Ironie nicht fassen: Meine Mutter war in ein Land geflüchtet, das mein Vater geliebt hätte.
Es wirkte, als wären diese Hügel unberührtes Land. Asphaltierte Straßen waren der einzige Hinweis darauf, dass auch vor mir schon Menschen hier gewesen waren, und in den drei Stunden, in denen ich durch diesen Staat gefahren war, hatte ich kein einziges anderes Auto gesehen. Um die gute Luft einatmen zu können, hatte ich die Fenster heruntergelassen. Die Luft hier war frischer als in Chicago und leichter als die in Cambridge. Ich hatte das Gefühl, als würde ich dieses endlos weite Land förmlich trinken, und nun verstand ich auch, wie jemand sich hier verlieren konnte.
Seit ich Chicago verlassen hatte, hatte ich unablässig an meine Mutter gedacht. Ich ging jede klare Erinnerung durch, die ich hatte, und fror jede einzelne in meinem Kopf ein wie ein Dia in der Hoffnung, etwas zu sehen, was mir bis dahin entgangen war. Aber ich hatte kein Bild von ihrem Gesicht, immer wieder verschwand es in den Schatten.
Mein Vater hatte gesagt, ich sähe aus wie sie, aber es war zwanzig Jahre her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, und acht, seit er mich zuletzt gesehen hatte. Also konnte er sich durchaus irren. Aufgrund ihrer Kleider wusste ich, dass sie größer und schlanker war als ich. Und von Eddie Savoy hatte ich erfahren, was sie in den letzten beiden Jahrzehnten gemacht hatte. Trotzdem glaubte ich nicht, sie in einer Menschenmenge ausmachen zu können.
Je weiter ich fuhr, an desto mehr erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich daran, wie sie versucht hatte, immer alles im Voraus zu machen. Sonntagabend machte sie meine Pausenbrote schon für die ganze Woche und verstaute sie in der Kühltruhe, sodass spätestens Freitag alles durchgefroren war, was ich aß. Ich erinnerte mich daran, wie ich mit vier Jahren Mumps bekam, aber nur rechts. Meine Mutter fütterte mich mit Götterspeise, und ich musste nur den halben Tag im Bett bleiben, denn – so sagte sie – immerhin sei ich ja auch halb gesund. Ich erinnerte mich an einen trüben Tag im März, als wir beide von Regen und Kälte einfach nur die Nase voll hatten. Mom backte einen Kuchen, bastelte Papphüte, und gemeinsam feierten wir ›Niemands Geburtstag‹. Und ich erinnerte mich daran, dass sie einmal einen Autounfall hatte. Als ich um Mitternacht runterkam, war das gesamte Wohnzimmer voll mit Polizisten, und Mom lag auf der Couch. Sie hatte ein geschwollenes Auge, eine Platzwunde an der Lippe, und sie streckte die Arme nach mir aus.
Dann erinnerte ich mich an den März, bevor sie uns verlassen hatte, an Aschermittwoch. Im Kindergarten hatten wir nach einem halben Tag frei, doch bei der Tribun e wurde gearbeitet. Meine Mutter hätte natürlich einen Babysitter anheuern können, bis sie wieder nach Hause kam, oder sie hätte mir sagen können, ich solle nebenan bei Manzettis warten. Doch stattdessen hatte sie die Idee, mit mir zum Mittagessen und anschließend in die Nachmittagsmesse zu gehen. Sie hatte das beim Abendessen verkündet und meinem Vater erklärt, ich sei klug genug, um alleine mit dem Bus zu fahren. Mein Vater starrte sie an. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Und dann packte er die Hand meiner Mutter und drückte sie so hart auf den Tisch, als könne der Schmerz ihr die Wahrheit vor Augen führen. »Nein, May«, sagte er. »Sie ist noch zu jung dafür.«
Doch kurz nach Mitternacht öffnete sich meine Zimmertür, und in dem Licht, das durch die Tür fiel, sah ich den Schatten meiner Mutter. Sie kam
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