Und dennoch ist es Liebe
beiden Stufen der Veranda herab, bis meine Mutter und ich uns Auge in Auge gegenüberstanden. »Es sind zwanzig Jahre, Mom «, sagte ich. »Ist es da nicht ein wenig zu spät für Ausflüchte?«
»Ja, es sind zwanzig Jahre, Liebes «, schoss meine Mutter zurück. »Und wie kommst du darauf, dass ich nach all der Zeit noch weiß, warum?« Sie wandte den Blick von mir ab, schaute auf ihre Schuhe und seufzte dann. »Es war nicht der Mob, und es war auch kein Liebhaber. Es war überhaupt nichts in der Art. Es war etwas viel Normaleres.«
Ich hob das Kinn. »Du hast mir noch immer keinen Grund genannt«, sagte ich, »und du bist alles andere als das, was man als ›normal‹ betrachtet. Normale Menschen verschwinden nicht einfach mitten in der Nacht und reden nicht mehr mit ihrer Familie. Normale Menschen benutzen nicht zwei Jahrzehnte lang den Namen einer Toten. Normale Menschen treffen ihre Tochter nicht zum ersten Mal seit zwanzig Jahren und tun so, als sei das ein ganz normaler Besuch.«
Meine Mutter trat einen Schritt zurück. Stolz und Wut funkelten in ihren Augen. »Hätte ich gewusst, dass du kommst«, sagte sie, »dann hätte ich dir den verdammten roten Teppich ausgerollt.« Sie machte sich auf den Weg zum Stall, blieb dann jedoch wieder stehen und drehte sich noch einmal zu mir um. Als sie sprach, klang ihre Stimme schon wieder sanfter, als hätte sie zu spät bemerkt, was sie gerade gesagt hatte. »Frag mich nicht, warum ich gegangen bin, Paige, bevor du dir nicht selbst beantworten kannst, warum du gegangen bist.«
Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht, und ich schaute ihr hinterher, als sie den Hügel hinunter- und zum Stall ging.
Ich wollte ihr hinterherlaufen und ihr sagen, dass es ihre Schuld war, dass ich gegangen war, dass ich diese Gelegenheit einfach nutzen musste, um von ihr all die Dinge zu lernen, die sie mir nie beigebracht hatte: wie man sich schön macht, wie man einen Mann behält und wie man als Mutter sein musste. Ich wollte ihr sagen, dass ich meinen Mann und mein Kind unter anderen Umständen nie verlassen hätte und dass ich im Gegensatz zu ihr wieder zurückgehen würde. Aber ich hatte da so ein Gefühl, dass sie mich nur ausgelacht und gesagt hätte: Ja, so fängt das immer an. Und ich hatte das Gefühl, dass ich ihr nicht mehr die ganze Wahrheit erzählen würde.
Ich war gegangen, bevor ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, meine Mutter zu suchen. Egal, was ich mir inzwischen auch eingeredet haben mochte, ich hatte mich Chicago schon bis auf wenige hundert Meilen genähert, als mir das erste Mal der Gedanke gekommen war, dass ich mich auf dem Weg nach Hause befand. Ich musste sie einfach sehen; ich wollte sie sehen … Ich verstand nun, was mich dazu bewegt hatte, Eddie Savoy anzuheuern. Aber ich hatte Max und Nicholas schon verlassen, als ich zum ersten Mal darüber nachdachte, nicht andersherum. Die Wahrheit war, selbst wenn meine Mutter nebenan gewohnt hätte, ich hatte einfach nur weggewollt.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich Max’ Nasenbluten die Schuld gegeben, doch das war nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Der wirkliche Grund war, dass meine Verwirrung zu grundlegend war, als dass ich das ganze Chaos daheim hätte entwirren können. Ich musste gehen. Mir war keine andere Wahl geblieben. Ich war nicht im Zorn gegangen, und ich hatte auch nicht für immer weggewollt, sondern einfach nur lange genug … lange genug, um das Gefühl zu bekommen, dass ich nicht alles falsch machte. Lange genug, um das Gefühl zu bekommen, dass ich mehr war als nur ein Anhängsel von Max oder Nicholas.
Ich dachte an all die Zeitungsartikel, die ich über Frauen mit Schuldgefühlen gelesen hatte, weil sie arbeiten gingen und ihre Kinder anderen überließen. Ich hatte mir diese Artikel bewusst herausgesucht und mir dabei immer wieder eingeredet, was für ein Glück ich doch hatte, dass ich bei meinem Kind sein konnte. In Wahrheit hatte sich dieser Teil von mir immer wieder gemeldet, der irgendwie nicht recht angepasst war und über den ich am liebsten nicht nachdenken wollte. Aber ist es nicht schlimmer, bei seinem Kind zu bleiben, wenn man genau weiß, dass man überall lieber wäre als dort?
Ich sah ein Licht im Stall angehen, und plötzlich wusste ich, warum meine Mutter gegangen war.
Ich ging ins Badezimmer hinauf und zog mich aus. Dann ließ ich heißes Wasser in die Badewanne. Die Wärme würde meinen verspannten Schenkeln guttun.
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