Und dennoch ist es Liebe
Nach dem Reiten spürte ich Teile meines Körpers, von denen ich vorher gar nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Ich putzte mir die Zähne und stieg in die Wanne. Dann legte ich den Kopf auf den Emailrand, schloss die Augen und versuchte, die Gedanken an meine Mutter zu vertreiben.
Stattdessen stellte ich mir Max vor, der morgen genau dreieinhalb Monate alt sein würde. Ich versuchte, mich an die Entwicklungsschritte zu erinnern, die er laut einem Buch, das Nicholas mir gekauft hatte, inzwischen erreicht haben sollte. Festes Essen … Das war das Erste, woran ich mich erinnerte, und ich fragte mich, was Max wohl von Bananen, Apfelbrei und Erbsen hielt. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie seine kleine Zunge einen Löffel abtastete, dieses unbekannte Objekt. Ich strich mit der einen über meine andere Hand und versuchte, mich an das samtige Gefühl von Max’ Haut zu erinnern.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand meine Mutter an der Badewanne. Sie trug einen gelben Bademantel. Ich versuchte, die Arme vor der Brust zu verschränken und meine Beine übereinanderzuschlagen, doch es gelang mir nicht wirklich.
Vor lauter Verlegenheit lief ich knallrot an. »Nicht«, sagte meine Mutter. »Du hast dich zu einer wahren Schönheit entwickelt.«
Ich stand abrupt auf, schnappte mir ein Handtuch und setzte vor lauter Eile das halbe Badezimmer unter Wasser. »Das glaube ich nicht«, murmelte ich und riss die Badezimmertür auf. Dann lief ich in mein Kleinmädchenzimmer, während der Dampf des Badezimmers den Blick auf meine Mutter vernebelte.
*
Als ich aufwachte, noch bevor ich wirklich bei Bewusstsein war, glaubte ich, die Stimmen meiner Eltern zu hören. Sie waren ganz deutlich in meinem Kopf, wie sie angriffen, sich zurückzogen, parierten.
Das war kein Streit. Es war niemals wirklich ein Streit. Meist waren die einfachsten Dinge der Auslöser: ein verbranntes Soufflee, die Predigt eines Priesters oder mein Vater, der zu spät zum Abendessen kam. Es waren nur halbe Streitereien. Meine Mutter fing immer an, und mein Vater beendete es. Er nahm den Fehdehandschuh nie auf. Er ließ sie schreien und ihm Vorwürfe machen, und dann, wenn sie zu schluchzen begann, hüllten seine sanften Worte sie ein wie eine Decke.
Es machte mir keine Angst. Ich lag im Bett und lauschte der Szene, die ich schon so oft mitbekommen hatte, dass ich den Dialog auswendig kannte. Peng! Das war meine Mutter an der Schlafzimmertür, und Sekunden später ging sie wieder auf, wenn mein Vater nach oben kam. In den Monaten, unmittelbar nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, rief ich mir all diese Szenen wieder ins Gedächtnis zurück und fügte die Bilder hinzu, die ich nie gesehen hatte, und meine Eltern wurden zu Schauspielern in einem körnigen Schwarzweißfilm.
Ein Beispiel: Ich stellte mir meine Eltern Rücken an Rücken vor. Meine Mutter bürstete sich das Haar, und mein Vater knöpfte sich das Hemd auf. »Du verstehst das nicht«, sagte meine Mutter mit wie immer hoher, erregter Stimme. »Ich kann nicht alles machen. Erwartest du etwa von mir, dass ich alles mache?«
»Schschsch, May«, murmelte mein Vater. »Du nimmst das zu ernst.« Ich stellte mir vor, wie er sich zu ihr umdrehte und ihre Schultern nahm – wie Bogart in Casablanca. »Niemand erwartet irgendetwas von dir.«
»Doch, du«, schrie meine Mutter, und das Bett knarrte, als sie aufsprang. Ich konnte sie auf und ab laufen hören. »Ich kann dir nichts recht machen, Patrick. Ich bin vollkommen erschöpft. Gütiger Gott, ich wünschte … Ich will …«
»Was willst du, á mhuírnán? «
»Ich weiß es nicht«, sagte meine Mutter. »Wenn ich das wüsste, dann wäre ich nicht mehr hier.«
Und dann begann sie immer zu weinen, und ich lauschte den leisen Geräuschen, die durch die Wand drangen: die Küsse und das Streicheln der Hände meines Vaters und dann die spannungsgeladene Ruhe, von der ich später erfuhr, dass sie Liebemachen bedeutete.
Manchmal hatte es auch Variationen dieser Szene gegeben. Als meine Mutter meinen Vater zum Beispiel angebettelt hatte, mit ihr fortzugehen, nur sie beide, in einem Kanu nach Fidschi. Dann wieder hatte sie meinen Vater gekratzt und geschlagen, und er hatte auf der Couch schlafen müssen. Einmal hatte sie gesagt, sie glaube immer noch, die Welt sei flach und sie hänge am Rand.
Mein Vater litt unter Schlaflosigkeit, und wenn es wieder einmal zu so einer Episode gekommen war, stand er mitten in der Nacht auf und schlich in seine
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