Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
nicht, obwohl er großen Hunger hatte. Er wollte, dass Paige da war, auch wenn er wusste, dass das nicht möglich war. Er wollte die Augen schließen und einmal selbst der Patient sein, der sich von ihren winzigen, zärtlichen Händen trösten ließ.
    Nicholas ließ sich auf das ordentlich gemachte Bett fallen und staunte über die Kühle des Tages. Er lauschte dem Schlagen seines eigenen Herzens, und kurz bevor er einschlief, dachte er an die Richtungsangaben, die die Patienten im Indianerreservat anstelle einer Adresse angegeben hatten. Mein Heim liegt westlich des Mass General, würde er sagen, Lichtjahre unterhalb der kalten Wintersonne.
*
    Serena LeBeauf lag im Sterben. Ihre Söhne kauerten auf der Kante des Krankenhausbettes wie riesige Welpen und hielten ihr die Hand, den Arm, den Fuß – was auch immer sie zwischen die Finger bekamen. Sie hatten Dinge mitgebracht, von denen sie glaubten, dass sie ihre Mutter trösten würden. Auf Serenas ausgemergelter Brust lag ein Bild von San Francisco, das aus einem Reiseprospekt ausgeschnitten worden war. Als sie jünger war, hatte sie dort gelebt. Unter ihrem Arm steckten die zerzausten Überreste eines alten Stoffaffen, und auf ihrem Bauch lag das Diplom, der College-Abschluss, für den sie so verdammt hart gearbeitet hatte, kurz bevor HIV bei ihr diagnostiziert worden war. Nicholas stand in der Tür, er wollte nicht aufdringlich sein. Er sah die feuchten braunen Augen von Serenas Söhnen, als sie ihre Mutter anstarrten, und er fragte sich, wo sie hingehen würden, wenn sie starb, besonders der Kleinste.
    Nicholas’ Pager summte in seiner Tasche, und er rannte die drei Treppen in die Intensivstation der Chirurgie hinunter, wo sein Bypasspatient lag. Im Zimmer herrschte hektische Aktivität. Ärzte und Krankenschwestern liefen hin und her, während das Herz des Patienten versagte. Alles war genau wie am Tag zuvor. Nicholas riss das Hemd des Patienten auf und versetzte ihm den ersten Schock. Und noch einen. Der Schweiß lief ihm über den Rücken und in die Augen. »Verdammt noch mal«, knurrte er.
    Fogerty war da. Innerhalb von wenigen Minuten hatte er den Patienten in einen Operationssaal gebracht. Fogerty brach den Brustkorb wieder auf, steckte die Hände in die blutige Höhle und massierte das offene Herz. »Dann wollen wir mal«, sagte er leise. Seine behandschuhten Finger glitten über das Gewebe, die frisch genähten Wunden und rieben und wärmten den Muskel, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Doch das Herz schlug nicht. Blut quoll zwischen Fogertys Fingern hervor. »Übernehmen Sie«, sagte er.
    Nicholas legte die Hand um den Muskel und vergaß für einen Augenblick, dass es da einen Patienten gab, einen Menschen mit einer Vergangenheit, der an diesem Herzen hing. Jetzt zählte nur noch eins: das Ding wieder zum Schlagen zu bewegen. Fünfundvierzig Minuten lang pumpte Nicholas manuell Sauerstoff ins System seines Patienten, bis Fogerty ihm sagte, er solle aufhören. Dann unterschrieb er den Totenschein.
*
    Kurz bevor Nicholas das Krankenhaus verlassen wollte, rief Fogerty ihn in sein Büro. Fogerty saß hinter seinem Mahagonischreibtisch, und die heruntergezogenen Jalousien warfen ihre Schatten auf sein Gesicht. Er bat Nicholas nicht hereinzukommen, ja er hob noch nicht einmal den Blick von dem Papier, auf dem er schrieb. »Sie hätten nichts tun können«, sagte er.
    Nicholas zog seine Jacke an und schlurfte ins Parkhaus zu seinem Wagen. Er fragte sich, ob er wohl je wieder einen Bypass operieren durfte. Er kramte in seinem Gedächtnis nach etwas, das er übersehen haben könnte, einen Riss in den Kapillaren vielleicht oder einen weiteren Verschluss, etwas, das Fogerty ihm gegenüber nicht erwähnt hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er die bernsteinfarbenen Augen von Serena LeBeaufs jüngstem Sohn, Spiegelbilder dessen, was auch einmal ihr Leben gewesen war. Und er dachte an die Medizinfrau der Navajo und fragte sich, wie viel Zaubertränke, Segen und Magie es wohl gab, die die moderne Wissenschaft nicht erklären konnte.
*
    Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, saß Paige im Wohnzimmer auf dem Boden und fädelte Preiselbeeren auf eine Schnur. Der Fernseher war in die Ecke geschoben worden, um Platz für eine riesige Blaufichte zu schaffen, die den kleinen Raum zur Hälfte füllte. »Wir haben keinen Christbaumschmuck«, sagte sie, und dann hob sie den Kopf und sah ihn.
    Nicholas war nicht auf direktem Weg nach Hause gegangen. Er war nach Cambridge

Weitere Kostenlose Bücher