Und dennoch ist es Liebe
meine Mutter sei gestorben, und mein Vater trauere ihr noch immer nach. Deshalb könne er es auch nicht ertragen, ihren Namen zu hören. Molly Flanagan hatte mir daraufhin den Arm getätschelt, und Terence hatte sein Bier zum Toast auf meine Mutter gehoben, wie es Sitte bei den Iren war. Nur Jake erkannte, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Ich hatte es ihm nie gesagt, doch er kannte selbst die hintersten Winkel meiner Gedanken. Manchmal erwischte ich ihn dabei, wie er mich anstarrte, als fühle er, dass ich etwas vor ihm verbarg.
» Floh! « Jakes Stimme übertönte die wummernde Musik aus dem Fernseher und erschreckte Moira, die daraufhin das Gleichgewicht verlor. Sie versuchte noch, sich an der Ferse ihrer Mutter festzuhalten, riss sie so aber nur mit sich zu Boden.
»Jake hält sich wohl für den König von England«, knurrte Molly und hob ihre jüngste Tochter hoch.
Ich lächelte und lief die Treppe hinauf. Jake hatte den Kopf in den Schrank gesteckt und suchte nach irgendetwas in dem Chaos aus Socken und Unterwäsche. »Hi«, sagte ich.
Er drehte sich nicht um. »Wo ist mein guter Gürtel?«, fragte er. Es war eine dieser Fragen, wie man sie einer Ehefrau oder einer langjährigen Geliebten stellte.
Ich griff unter seinem Arm hindurch und nahm den Gürtel von dem Haken, an den Jake ihn vor ein paar Tagen gehängt hatte. Jake zog das Leder durch die Schlaufen an seiner Khakihose. »Wenn du irgendwann aufs College gehst«, sagte er, »bin ich verloren.«
Als er das sagte, wusste ich, dass ich nie aufs College gehen und nie mehr etwas zeichnen würde, wenn er mich bat zu bleiben. Als Jake sich zu mir umdrehte, brannte mein Hals, und mein Blick verschwamm. Ich schüttelte den Kopf und sah, dass er sich für ein Date zurechtgemacht hatte, dass seine fleckige Jeans und das blaue Arbeitshemd zerknüllt unter dem Fenster lagen. Ich wandte mich rasch von ihm ab, sodass er meine Augen nicht sehen konnte. »Ich wusste nicht, dass du ausgehen willst«, sagte ich.
Jake grinste. »Seit wann habe ich denn Freitagabend keine Verabredung mehr gehabt?«, fragte er.
Er ging an mir vorbei, und sein vertrauter Duft hing in der Luft. Mein Kopf pochte, und ich war überzeugt, wenn ich jetzt nicht sofort den Raum verlassen würde, müsste ich sterben.
Ich wirbelte herum und rannte die Treppe hinunter. Die Tür schlug hinter mir zu, und ich lief wie der Wind. Ich hörte die Sorge in Mollys Stimme, als sie mir hinterherrief, und den ganzen Heimweg über spürte ich Jakes Blick und seine Fragen in meinem Rücken brennen.
Daheim zog ich mein Nachthemd an, ließ mich aufs Bett fallen und zog die Decke über den Kopf, um nicht daran erinnert zu werden, dass es erst Mittag war. Ich nickte ein und wachte um halb drei in der Nacht erschrocken auf. Auf Zehen schlich ich am Zimmer meines Vaters vorbei und in die Küche hinunter. Ich tastete mich durch die Nacht, schloss die Tür auf und öffnete sie für Jake.
Er hielt Löwenzahn in der Hand. »Die sind für dich«, sagte er, und ich trat einen Schritt zurück, war enttäuscht, dass ich seine Augen nicht sehen konnte.
»Das ist Unkraut«, erklärte ich ihm.
Er kam näher und drückte mir die verwelkten Stängel in die Hand. Als unsere Hände sich berührten, loderten die Flammen in meinem Bauch wieder auf und verbrannten meinen Hals und meine Augen. Ich fühlte mich wie auf einer Achterbahn oder als würde ich eine Klippe hinunterstürzen. Und es dauerte nur eine Sekunde, bis ich das Gefühl eingeordnet hatte: Es war Angst, überwältigende Angst, wie man sie in dem Augenblick empfindet, in dem man erkennt, dass man nur um Haaresbreite einem furchtbaren Unfall entkommen ist. Jake hielt meine Hand, und als ich mich von ihm lösen wollte, ließ er mich nicht los.
»Heute war dein Abschlussball«, sagte er.
»Was du nicht sagst.«
Jake starrte mich an. »Ich habe alle nach Hause kommen sehen. Ich wäre mit dir gegangen. Du weißt, dass ich mit dir gegangen wäre.«
Ich hob das Kinn. »Es wäre nicht dasselbe gewesen.«
Schließlich ließ Jake mich los. Ich erschrak, als ich bemerkte, wie kalt mir plötzlich wurde. »Ich bin auf einen Tanz vorbeigekommen«, sagte er.
Ich schaute mich in der winzigen Küche um. In der Spüle stapelte sich das Geschirr, und die weiße Wandfarbe schimmerte im Mondlicht. Jake zog mich zu sich heran, bis wir uns an Händen, Schultern, Hüfte und Brust berührten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange, und ich fragte mich, was mich aufrecht hielt.
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