Und dennoch
Ordnung unserer demokratischen Staats- und Lebensform haben wir keinen Namen. Deshalb wählte ich für die Zusammenschau den Sammelbegriff »Demokratiepolitik«, der demokratische Abläufe, Zusammenhänge und Befindlichkeiten umfasst: Gute Demokratiepolitik ist, was die Funktionsfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Stabilität demokratischer Prozesse stärkt, und schlechte, wenn sie diesen schadet oder sie schwächt. Demokratiepolitik für überflüssig zu halten, das hieße, den Kopf in den Sand zu stecken und weiter zu wursteln wie bisher. Genau diese Haltung hat zu einer schleichenden Destabilisierung des demokratischen Kreislaufs geführt. Deshalb plädiere ich nicht nur für ein demokratiepolitisches Gesamtkonzept, sondern auch für Einzelreformen, um damit Signale für unsere demokratiepolitische Gestaltungsfähigkeit zu geben.
Auf dieser Agenda steht an erster Stelle die Reform des Bundestagswahlrechts mit dem Ziel, die wahlentscheidende Zweitstimme des Wählers zu personalisieren. Das jetzige Verfahren, bei dem der Wähler nur eine geschlossene und von Parteidelegierten zumeist in Hinterzimmern in bestimmter Reihung bereits festgelegte Kandidatenliste zum Ankreuzen vorgelegt bekommt, ist vielen Bürgern seit eh und je ein Dorn im Auge. Stattdessen müsste für diese Zweitstimme unbedingt eine echte Personenwahl eingeführt werden. Damit erhielte der Wähler einen persönlichen Bezug zum Abgeordneten seiner Wahl, den er bei einer unveränderbaren Listenwahl nicht hat. Dieser persönliche Bezug zwischen Wählern und Gewählten ist wichtig. Er stärkt nicht nur die innere Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber möglichen Parteizwängen und -sanktionen, er gibt zudem auch unbequemen Kandidaten bessere Chancen als bisher. Außerdem ermöglicht er gemäß dem Gebot von Artikel 38 des Grundgesetzes, in persönlichen Gewissensfragen zwangsfreier zu handeln.
Das heutige Verfahren ist auch deshalb ein Ärgernis, weil einige wenige Delegierte über die personelle Zusammensetzung der Hälfte der Bundestagsabgeordneten entscheiden und nicht die Wähler. Wie oft erlebte ich, dass ein junger Volksvertreter wohlgemut gen Hauptstadt gezogen war, um »denen da oben« mal klarzumachen, wie »denen da unten« zumute ist. Alsbald hatte er sich der Fraktionsdisziplin so angepasst, dass er jede Bonner respektive Berliner Kröte schluckte!
Die »offene« Zweitstimme, die ich empfehle, gibt es übrigens dank dem Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner im bayerischen Landtagswahlrecht seit über sechzig Jahren, und sie hat sich bestens bewährt. Sie wirbelt die Reihenfolge der gewählten Kandidaten jedes Mal beträchtlich durcheinander und stärkt den Bezug zwischen dem Wähler und »seinem« Abgeordneten. Das in diesem Sinne kürzlich in Hamburg eingeführte Wahlrecht ist allerdings viel zu kompliziert.
Abgesehen vom Wahlrecht steht auf meiner demokratiepolitischen Agenda eine weitere Priorität, und die betrifft die so schlicht wirkende Grundgesetzbestimmung des Artikels 20, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und »in Wahlen und Abstimmungen« ausgeübt wird (siehe Kapitel 4). Welch ein Kuriosum ist das: Wahlen, ja, die haben wir, aber Abstimmungen, nein, die gibt es nicht, bis auf den Ausnahmefall, wenn es um einen Zusammenschluss oder um Grenzänderungen von Bundesländern geht. Wie ist das möglich? Wurde das Grundgesetz einfach immer nur so restriktiv interpretiert, womöglich aus Angst vor der eigenen Courage, vor unliebsamen Plebisziten im Nach-Hitler-Deutschland? Damals war das wohl nicht ganz falsch gedacht. Heute aber, nach über sechzig Jahren, wo alle Welt völlig zu Recht nach mehr Partizipation der Bürger ruft, sollte man Mitwirkungsrechte auch auf Bundesebene ermöglichen, um dem Einzelnen damit mehr Beteiligung und der Demokratie wieder mehr Akzeptanz zu ermöglichen. Und je dringlicher beides wird, umso umgehender sollte man das bereits überhitzte Eisen anpacken
und gesetzlich geregelte Verfahren für Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene einführen. Es ließe sich ganz einfach bewerkstelligen, indem man dem bereits im Grundgesetz stehenden Wörtchen »Abstimmungen« konkret weiterführende Gültigkeit zuerkennt. So könnte statt monatelanger wilder, illegaler, manchmal außer Kontrolle geratener Proteste und Verhärtungen, wie wir sie bei »Stuttgart 21« erlebten, ein geregeltes Verfahren für Bürgerbeteiligung entwickelt werden, so wie es in fast allen westlichen Demokratien möglich
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