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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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und bei uns auf Länder- und Kommunalebene vielfach erprobt ist.
    Auf meiner aktuellen demokratiepolitischen Überprüfungsliste stehen noch zwei weitere Themen, die regelmäßig Bürgerzorn auslösen und deshalb alsbald aus der Welt geschafft werden müssten: Das eine ist die finanzielle Selbstbedienung von Parteien, Politikern und Parteistiftungen. Längst bedarf dieses Vorgehen eines streng geregelten und für alle transparenten Verfahrens, ohne jegliche Schlupflöcher. Und das andere Ärgernis ist der nun neuerlich wieder festzementierte Kulturföderalismus , der angesichts der Wirren von sechzehn Schul- und Bildungssystemen jede Rechtfertigung verloren hat. Es ist geradezu ein Dauerskandal, dass die guten Ansätze zu einer Bund-Länder-Kooperation in der Bildungspolitik, die Ende der sechziger Jahre eigens etabliert worden war, im Rahmen einer unsäglich verkorksten Föderalismusreform wieder rückgängig gemacht wurden. Nun gibt man erneut der totalen Zersplitterung Raum. Das ist nicht nur ein Alptraum für Eltern, die mit ihren Kindern das Bundesland wechseln, sondern auch ein Hindernis für die Weiterentwicklung eines überschaubaren, chancengerechten, in Europa und international tauglichen Bildungssystems (siehe Kapitel 6). Dieses wiederbelebte Relikt verkrusteter Kleinstaaterei weist auf mangelnde Voraussicht für überfällige Veränderungen hin, um die es auch auf anderen Reformbaustellen nicht besonders gut bestellt ist, zum Beispiel bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Ein erfahrener Reformer hat es zutreffend einmal so definiert: »Reformiert soll werden, aber ändern darf sich nichts!«
    Integration – Prüfstein der Demokratiepolitik
    Wir haben uns im Laufe der Jahre zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Unterlassungen und Verspätungen schuldig gemacht, von denen bereits wiederholt die Rede war. Nun möchte ich noch ein besonders folgenschweres Versäumnis beschreiben: die jahrzehntelang missglückte gesellschaftspolitische Akzeptanz unserer ausländischen Mitbürger, die wir seit den fünfziger Jahren als Arbeitskräfte in unser Land holten, ohne rechtzeitig zu erkennen, dass sie keine vorübergehenden »Fremdarbeiter« mehr waren, sondern dass sie Familien und Kinder hatten, die bei uns aufwuchsen und bei uns heimisch werden sollten, es aber oft nicht wollten oder keine ausreichende Hilfe dafür erhielten.
    Nun, da sich die Bundesrepublik endlich als Einwanderungsland versteht, sind aus anonymen Arbeitskräften »Migranten« oder »Menschen mit Migrationshintergrund« geworden. Heute betrifft dies insgesamt etwa sieben Millionen Menschen, und die Parole lautet: »Wir wollen, dass sie sich integrieren.« Dieser Prozess hat jedoch viel zu spät eingesetzt. Wir haben verpasst, die Migrantenkinder schon im Kindergarten mit der deutschen Sprache vertraut zu machen, wir haben ihre immensen Probleme, in unserem Bildungssystem zu reüssieren, nicht rechtzeitig erkannt und damit ihre schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt ignoriert. Wir haben die oft zwangsverheirateten muslimischen Frauen zwar bedauert, aber — meist wegen Sprachschwierigkeiten — keine Solidarität aufbauen können wie etwa zu Frauen aus anderen Kulturkreisen. Wir wissen kaum etwas über ihre Religion und nur Erschreckendes über das islamische Rechtssystem.
    So haben wir mindestens zwei Generationen lang nebeneinanderher gelebt. Erst vor etwa dreißig Jahren begannen wir, diese Hindernisse wahrzunehmen, was zur Ernennung eines Ausländerbeauftragten durch die sozialliberale Bundesregierung führte. Als es in einer Kabinettssitzung darum ging, war ich in Vertretung von Außenminister Genscher anwesend. Ich spürte
Ungewissheit über Funktion und Aufgaben eines solchen Amtes, dennoch entschied man sich dafür. Erster Ausländerbeauftragter wurde dann 1978 der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn, ihm folgte 1981 die langjährige FDP-Abgeordnete Liselotte Funcke. Beide erfüllten die völlig neue Aufgabe mit Hingabe und großem Engagement und haben die Voraussetzung für ein besseres Verständnis für die vielfältigen Schwierigkeiten der Migranten und ihrer wachsenden Familien geschaffen.
    Meine erste Begegnung mit Migrantenkindern hatte ich als Staatssekretärin im Hessischen Kultusministerium Ende der sechziger Jahre. Ich besuchte eine Schulklasse, in der viele ausländische Jungen und Mädchen waren, die so gut wie kein Deutsch sprachen. Anschließend machte ich mir Gedanken,

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