Und dennoch
politischen Erkenntnis der langjährigen Versäumnisse und Fehlentwicklungen. Und tatsächlich flaute die militante Welle ab.
Heute ist alles subtiler geworden. Doch immer mal wieder brechen Kontroversen auf, immer mal wieder werden sie von konservativen Parteien für Wahlzwecke instrumentalisiert, zum Beispiel als Hessens damaliger Ministerpräsident Roland Koch anlässlich der Landtagswahlen 1999 eine Unterschriftensammlung unter dem Motto: »Ja zur Integration, Nein zur doppelten Staatsangehörigkeit« initiierte. Aber auch andere Parteien in anderen Bundesländer schürten oder duldeten Ängste und Feindseligkeiten der Bevölkerung oder sahen mehr oder weniger tatenlos zu, wenn diese eskalierten.
Die neueste Kampfparole heißt nun: »Multikulti ist tot.« Ich empfinde sie als geradezu volksverdummend. Eine verantwortungsbewusste Integrationspolitik muss zum Ziel haben, den
Umgang und das Zusammenleben in einer unabänderlich multikulturellen Gesellschaft in demokratischer Weise zu gestalten. »Multikulti« als grenzenlose Beliebigkeit mag tot sein, eigentlich hat es sie nie gegeben. Wie auch immer: Ohne ein Multikulti-Verständnis auf beiden Seiten wird es keine Integration geben.
Anregung für eine »Demokratie-Watch«
Für alles und jedes gibt es in unserem Land Lobbys, Kontroll-und Unterstützungsinitiativen, neuerdings »Watch« genannt, zum Beispiel: Human-Rights-Watch , Children’s-Watch , Food-Watch . Nur für die Demokratie gibt es das nicht. Wie wäre es, wenn sich eine bundesweite Bürgerinitiative mit Namen Demokratie-Watch gründen würde, mit dem Ziel, gegen Parteien-, Politik- und Politikerverdrossenheit anzugehen. Demokratie ist nie vollendet, immer auf dem Prüfstand und die mühsamste Form der Meinungsbildung und des Zusammenlebens. Aber sie garantiert Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das ist alle Mühen wert!
Bildung ist Bürgerrecht auch für Migrantenkinder.
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Über Bildung als Bürgerrecht: Versäumnisse, Verspätungen, Aufbrüche
Nach 1945 ging es darum, den Übergang von der Diktatur zur Demokratie nicht nur in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und Zusammenlebens auf den Weg zu bringen, sondern zuerst und vor allem im Bildungs- und Erziehungswesen. Erst wenn die bildungspolitischen Ziele auf der Basis demokratischer Bedingungen erneuert wären, könnten der Bazillus der NS-Ideologie und die konservativen Verkrustungen überwunden werden. Davon war ich jedenfalls überzeugt, und deshalb machte ich mich gleich nach meiner Wahl 1950 in den Bayerischen Landtag mit Feuereifer an die Bildungspolitik. Ich wollte alles auf einmal: neue Lehrpläne, neue Bücher, neue Lehrer und insbesondere neue schulische Arbeits- und Verhaltensformen. Die Amerikaner hatten zwar auf demokratische Bildungsreformen gedrängt, die aber von deutscher Seite strikt abgelehnt worden waren. Vieles davon tauchte jedoch noch fünfzig Jahre später in der ersten PISA-Studie als gravierende Defizite wieder auf.
Nichts davon war in der Nachkriegszeit vorhanden, und was angeboten wurde, waren allenfalls grob überarbeitete Lehrpläne, Lesebücher aus den zwanziger Jahren und Lehrer, die kaum imstande waren, ihre Mentalität und Lehrweise abzulegen, die sie sich unter der Hitler-Diktatur angeeignet hatten. Besonders die Schulbuchtexte waren offenkundig völlig antiquiert, meist sentimental-betulich oder schlicht falsch. Hierfür ein paar Beispiele, die ich in den Schulbüchern meiner Kinder Anfang der sechziger Jahre fand. Man bedenke: mehr als fünfzehn Jahre nach Kriegsende! Kaum eines von etwa zweihundert Stücken in einem Lesebuch handelte von der Gegenwart, stattdessen wimmelt es darin von barfüßigen Hirtenknaben, duldsamen Mägden, abgerackerten
Mütterchen, frommen Bauern, von Holzpflügen und Ochsenwagen:
Seit tausend Jahren gedeiht das Korn des Urvaters auf dem ewigen Acker und hat seitdem Tausende unseres Namens gesättigt und gesegnet. Ja, es ist ein ewiger Acker, denn er wird auch fernerhin die Frucht des Urvaters tragen … heiliges Brot vom ewigen Acker.
Mein Achtjähriger stotterte sich gelangweilt durch den Text. Die Mutter auch. Immer wurde das Landleben als allein seligmachende Lebensform und Lebensinhalt gepriesen:
Der Postbote hatte nicht einmal einen Schirm und im Winter keine Handschuhe. Ich habe nur wenige Menschen gesehen, welche gleich selbstverständlich ihren Arbeitssack auf Gottes Erdboden herumtrugen.
Und das Motto des Buchs lautete:
Willst du sein ein guter Christ, Bauer
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