Und dennoch
bei der FDP nach zwei sehr erfolgreichen Wahlgängen gefordert, und das wurde seitens der FDP-Führung gehorsam befolgt. Die Sozialdemokraten hielten an ihrem Kandidaten Johannes Rau fest, was viele SPD-Delegierte, vor allem weibliche, nachträglich bedauerten.
Als alles überstanden war, zog ich mit meiner Familie, die das Geschehen von der Tribüne aus miterlebt hatte, erleichtert davon. Vor dem Reichstag stand ein Häufchen Frauen, die mir freundlich und anerkennend zuwinkten. Bei nachfolgenden Wahlen zum Bundespräsidenten wurden Frauen weiterhin nur als Zählkandidatinnen gebraucht. Stets entschied und entscheidet allein die Parteiräson, und damit sollte es nach meiner Einsicht in Zukunft ein Ende haben! Eine Volkswahl unseres Staatsoberhaupts, wie sie in den meisten westlichen Demokratien üblich ist, die keine Monarchien sind, ist überfällig! Darin hat mich noch eine weitere Erfahrung bestärkt: Der Zufall hat es gewollt, dass ich im Jahr 2010 als »Wahlfrau« der hessischen Grünen an der Bundespräsidentenwahl teilnahm. Sie haben mich zur Unterstützung ihres Kandidaten Joachim Gauck eingeladen. Welch seltsames Comeback sechzehn Jahre nach meiner eigenen Kandidatur: dieselbe Klüngelei, dieselbe Abstimmungsdiktatur, aber auch ein wenig Erinnerungsnostalgie und ein Wiedersehen mit vielen ehemaligen Kollegen.
Gauck hatte ebenfalls keine Chance, nutzte aber seine Möglichkeiten sehr eindrucksvoll. In der allgemeinen Missstimmung, sichtbar geworden auch an den Umfragetiefs der Parteien und
der Politik überhaupt, hätte unserem Land nach dem unplanmäßigen Rücktritt Horst Köhlers, den ich sehr bedauerte, ein Präsident der Ermutigung und des Neuanfangs gutgetan. Heute würde ich mir einen Präsidenten wünschen, der nicht nur Sonntagsreden hält, sondern darüber nachdenkt und ausspricht, was unsere Parteiendemokratie politisch nicht mehr ausreichend zusammenhält. So viel Unabhängigkeit sollte er sich leisten.
Der Parteiaustritt
Das zweite Ereignis, das meinen Vorruhestand in Unruhe versetzte, war mein Austritt aus der FDP im September 2002. Ich habe ihn bereits beschrieben (siehe Kapitel 7), möchte aber doch noch etwas über die persönlichen Verletzungen und die Betroffenheit hinzufügen, die er bei mir nachträglich hinterlassen hat. Ich habe in der Folge zahlreiche Briefe erhalten, auch von enttäuschten Parteifreunden, die mir vorwarfen, dass man wegen »so ein bisschen Wahlkampf-Antisemitismus« nicht aus der Partei austritt. Ich konterte: Nur »ein bisschen« antisemitisch sein, das könne man ebenso wenig wie nur »ein bisschen schwanger sein«. Antisemitismus sozusagen als Kavaliersdelikt und Wahlkampfmasche zu verharmlosen, das rechtfertigte sehr wohl meinen Austritt aus der FDP, vor mir selbst und den tragischen Schicksalen in meiner Familie während der Nazizeit. So etwas bekümmert heute aber niemanden mehr. Schade, dass niemand der FDP-Granden es je für nötig befunden hat, mit mir ein Gespräch darüber zu führen. So blieb es beim Bruch, wenn auch mit gelegentlichen persönlichen und dann auch freundlichen Begegnungen.
Versuch einer Bilanz
An der Schwelle zu meinem zehnten Lebensjahrzehnt frage ich mich rückblickend, ob und wie ich den beiden Zielen, die ich mir nach 1945 gesetzt hatte, gerecht geworden bin. Mein politisches Engagement reduzierte ich, nein, nicht reduzierte, sondern konzentrierte ich, nachdem wir aus der Unfreiheit in die Verantwortung für die Freiheit entlassen worden waren, zum einen auf die Verpflichtung, das Vermächtnis der Opfer des Nazi-Terrors zu bewahren und an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Und zum anderen wollte ich dazu beitragen, dass Freiheit und Rechtsstaat zum Kraftquell einer demokratischen Staats- und Lebensform werden, auf dass sich kein menschenverachtender Unrechtsstaat wiederholen kann. Meine Bilanz besteht aus vielen kleinen, zumeist unvollkommenen Teilstücken, über die ich berichtet habe.
Es war ein oft mühevolles Tun und Lassen, so wie es der deutsche Philosoph Georg Christoph Lichtenberg vor rund zweihundert Jahren sinngemäß wie folgt beschrieben hat: »Eine Republik zu bauen auf den Trümmern einer niedergerissenen Monarchie, ist eine schwere Aufgabe. Es gelingt nicht, bis dass jeder Stein neu behauen ist. Und das braucht Zeit …« Auch wir mussten jeden Stein neu behauen – und dafür haben wir viel Zeit gebraucht.
Selbst heute noch entdecken wir immer mal wieder »unbehauene Steine« in Form unaufgearbeiteter
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