Und der Basilisk weinte (German Edition)
Sie vorher informieren, damit Sie beim Gespräch dabei sein können.»
«Danke, Frau Kupfer. Sie halten mich für eiskalt, nicht wahr?»
«Eiskalt ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber … wie soll ich sagen …»
Sie lachte und zeigte dabei ihre strahlend weissen, ebenmässigen Zähne.
«Wenn Sie geheucheltes Mitleid erwarten, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Haben Sie Geschwister?»
«Nein.»
«Ich habe meinen kleinen Bruder vergöttert, abgöttisch geliebt. Beat war ein intelligenter, fröhlicher und herzensguter Mensch. Strahlte ungeheure Lebensfreude aus, hatte viele Interessen und noch so viele Pläne …», sie atmete tief durch. «Musik und Literatur waren seine Steckenpferde. Er spielte ziemlich gut Gitarre und besuchte beinahe jede Theatervorstellung. Opern waren nicht sein Ding, aber für ein Schauspiel hat er die halbe Schweiz bereist … Sie denken jetzt, dass sei das verklärte Geschwätz der grossen Schwester. Fragen Sie in seinem Bekanntenkreis nach, er war sehr beliebt … ‹Du hast jeden Raum mit Sonne geflutet, hast jeden Verdruss ins Gegenteil verkehrt. Nordisch nobel, deine sanftmütige Güte, dein unbändiger Stolz, das Leben ist nicht fair.› …» Mit Mühe bezwang sie ihre Tränen. «Er ist einen so sinnlosen Tod gestorben. Bloss, weil er im falschen Moment am falschen Ort gewesen ist – auf dem Heimweg vom Stadttheater. Wir haben damals am Rheinsprung gewohnt. Beat hat seine Mörder nicht einmal gekannt …»
Nadine und Ferrari sassen schweigend da. Betroffenheit machte sich breit.
«Vor Gericht hat Hartmann die These aufgestellt, dass mein Bruder die vier unbekannten jungen Männer provoziert haben könnte. Was für ein Hohn! Beat hat nie jemanden provoziert, er verabscheute Gewalt.» Sie fuhr sich durch eine Stirnlocke und warf mit einer Kopfbewegung die Haare zurück. «Ich hoffe wirklich, dass Gissler nicht zufälligerweise umgebracht wurde, und bete inständig, dass es erst der Anfang ist.»
«Das hoffen wir nicht. Wir werden unser Möglichstes tun, um dies zu verhindern.»
«Das ist Ihre Pflicht, Herr Kommissär. Doch der gerechte Gott wird meine Gebete erhören. Wenn Sie mich nicht länger benötigen, möchte ich jetzt gern gehen.»
Während Nadine Elisabeth Fahrner zum Ausgang begleitete, versuchte Ferrari seine Gedanken zu ordnen. Wie man an einem Tag in die Abgründe verschiedener Menschen blicken kann. Die vier Täter, er hielt das Wort Mörder in diesem Zusammenhang für falsch, die einen anderen jungen Menschen brutal erschlugen. Eine sinnlose Mutprobe jugendlichen Leichtsinns. Vermutlich hatten sie sich gegenseitig hochgeschaukelt, keiner konnte als Feigling da stehen. Das Opfer wehrt sich, zuerst nur verbal. Ein Wort gibt das andere. Dann folgen schreckliche Taten. Sekunden später ist die Entscheidung über Leben und Tod gefallen. Beat Fahrner hatte nicht den Hauch einer Chance. Was für ein Wahnsinn! Der Kommissär schüttelte den Kopf. Das Leben ist nicht fair, hatte Elisabeth Fahrner aus einem Lied von Grönemeyer zitiert. Nein, das war es wirklich nicht.
Zwei der vier Täter ziehen sich vollkommen zurück. Sie wollen keine Verantwortung übernehmen, haben keine Freunde, keine Familie. Ein Leben im Nichts. Der Dritte stellt sich in den Dienst der Menschheit, kämpft erfolgreich für die Rechte von Senioren. Der Kopf der Gruppe wird ein renommierter Arzt, der unzählige Leben rettet. Nur dieses eine bleibt für immer verloren. Dieser tragische Moment vor fünfzehn Jahren brennt sich für immer in die Seelen der Täter ein. Ein Vergessen, ein Entrinnen ist unmöglich. Die Schuld wiegt zu schwer.
Diese verhängnisvolle Nacht zieht weitere Kreise. Da ist ein Vater, der instinktiv und mit aller Macht sein Kind schützen will, sein alter Freund, der Staatsanwalt, und ein brillanter Strafverteidiger. Alle verfolgen sie dasselbe Ziel: den Freispruch der Angeklagten. Gewonnen hat am Ende niemand. Schon gar nicht Kommissär Meister, der die Täter fasst und sie wieder frei lassen muss. Wie sich Meister gefühlt hat und immer noch fühlt, konnte sich Ferrari vorstellen. Nicht auszudenken, wie er reagiert hätte … Der Assistentin Anita Brogli mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihren unorthodoxen Methoden kostete es die Karriere.
Und die Familie des Opfers? Eltern, die sich Tag für Tag hintersinnen, nur mit Mühe weiterleben können, die Schuld bei sich suchen und unaufhaltsam zerbrechen. Die Schuld – sie liegt immer bei den Eltern. Die
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