und der Herr der Loewen
das nämlich ebenfalls plötzlich bewußt. Wie konnten wir nur so unvorsichtig sein! Meinst du wirklich, daß Dickson Simba etwa...«
Mrs. Pollifax seufzte. »Ich habe eine vielleicht zu lebhafte Phantasie, Kadi.«
»Sein Gesichtsausdruck war wirklich sehr eigenartig.« Kadi runzelte die Stirn. »Glaubst du, er war nur verlegen, weil niemand im Laden war? Und dann erschien auch noch diese gespenstische Gestalt an der Hintertür - ein Riese! -, ich wünschte, ich hätte sein Gesicht sehen können. Er hat mir wirklich einen Schreck eingejagt. Aber dann verschwand er einfach.
Hast du ihn gesehen?«
»Ja.« Mrs. Pollifax nickte und dachte: Ich habe ihn auch vorgestern durch das Fenster der Bang-Bang Snackbar auf uns starren sehen. Und eine Stunde, nachdem Esau ermordet worden war, schloß sich das Tor zu seinem Geschäft - offenbar war er da eben zurückgekehr t. Und die ganze Zeit, während ich neben Esaus Leiche wartete, wurde ich beobachtet. Das weiß ich, weil ich das Knacken und Knistern dürrer Zweige hörte, als der Beobachter sich zurückzog. War es Moses gewesen? Wer war Moses? Sie hatte ihm diese Frage gestellt. »Ein Niemand«, hatte er geantwortet.
Sie erinnerte sich auch, daß sie fast umgekehrt wäre, als sie zum erstenmal seinen feindseligen Blick und diese furchtbare Narbe in seinem Gesicht gesehen hatte. Ja, sie war nahe daran gewesen, regelrecht die Fluc ht zu ergreifen, hätte nicht ihre angeborene Hartnäckigkeit sie veranlaßt, zu Ende zu bringen, was sie sich vorgenommen hatte. Doch als sie ihn dann verlassen hatte, hatte sie große Sympathie für ihn empfunden.
Immer hatte Mrs. Pollifax sich auf ihre Instinkte verlassen, doch jetzt fragte sie sich, welchem sie trauen sollte: diesem ersten Drang, sich bei seinem Anblick zurückzuziehen, oder der Wärme, mit der sie sich später unterhalten hatten?
Sie dachte bedrückt: Vielleicht sollte ich mich jetzt fragen, wie es mit der geistigen Gesundheit eines Mannes aussah, der inhaftiert gewesen und sieben Jahre lang gefoltert worden war.
Ich will gar nicht daran denken, aber ich muß! Sie wußte, was Folterungen aus einem Menschen machen konnten. Sie war selbst gefoltert worden, damals in Hongkong. Sie hatte die paar Stunden zwar durchgehalten, aber es hatte Wochen - nein, Monate - gedauert, bis die Alpträume vergingen. Was mochten sieben Jahre Alpträume aus einem Menschen machen?
Sie empfand plötzlich das dringende Bedürfnis, Cyrus anzurufen und mit ihm über ganz normale, vertraute Dinge zu reden, wie beispielsweise über Mrs. Lupacik, Seifenopern und ob es seit ihrer Abreise geschneit hätte.
»Hat es geschneit?« fragte sie Cyrus, als ihr Anruf endlich nach Connecticut durchgestellt war.
»Emily«, sagte er, »warum zum Teufel rufst du aus Afrika an, um dich zu erkundigen, ob es geschneit hat? Mir gefällt auch der Unterton in deiner Stimme nicht. Steckst du in Schwierigkeiten?
Bist du jetzt allein? Kannst du reden?«
»Ein wenig später. Bitte, rede du zuerst ein paar Minuten lang.«
Glücklicherweise verstand er. Er erzählte, daß in der vergangenen Nacht gut zwei Zentimeter Schnee gefallen seien.
Daß Mrs. Lupacik darauf beharrte, die blonde Winsome Aubrey aus der Seifenoper Time and Tide könne unmöglich eine Diebin sein, während man seiner Ansicht nach niemandem auch nur einen Meter weit trauen konnte, der Winsome hieß. Daß Mrs. Lupacik des Cholesterins wegen Eier vom Speiseplan gestrichen habe. Und daß im Garten die Narzissen trotz des Schnees tapfer ihr erstes Grün aus der Erde reckten.
»Ist das prosaisch genug für dich?« fragte er. »Aber jetzt bist du dran, also rede!«
Mrs. Pollifax hatte - sehr selbstsüchtig, wie sie zugeben mußte - erhalten, was sie so sehr brauchte: Perspektive und Verbindung zu einer anderen, beruhigend prosaischen Realität. So konnte sie nun berichten, was sie zuvor sorgfältig überlegt hatte, denn sie wußte, daß Cyrus sich auch so schon hilflos genug fühlte, ohne daß sie ihm in seiner Lage auch noch zusätzliche Sorgen machte. Sie erklärte ihm, was es bedeutete, in Ubangiba für einen Meister der Schwarzen Magie gehalten zu werden. Daß es in kurzen Abständen mehrere
ungewöhnliche Morde gegeben hatte. Daß Sammat immer mehr von seiner Zuversicht verlor.
Daß Kadi am Arm verletzt worden war und man eine Zeitlang eine Infektion befürchtet hatte, daß sie sich jetzt aber wieder recht gut fühlte und der Arm heilte. Und daß sie heute einkaufen gewesen waren, um ein Geschenk für
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