Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
Vom Netzwerk:
Menschen ab, die er liebte.
    Aber das war noch nicht alles. Frank hatte die letzten vier Jahre in Gesellschaft von Männern verbracht, von ungewaschenen, uniformierten Männern. Er hatte nur Schlamm gesehen und Wellblech und Stacheldraht, verstümmelte Bäume und verstümmelte Menschen: er hatte nur die häßliche Seite der Welt gesehen. Er hatte nur gebrüllte Befehle gehört, Kanonendonner, das Bersten von Bomben und das Schreien von Männern. Er hatte Schießpulver gerochen und erhitztes Metall, den Gestank toter Ratten, toter Pferde, toter Menschen. Alice hatte genug Phantasie, um zu wissen, daß ein solcher Mann, selbst wenn er so diszipliniert war wie Frank, ein Bild in sich trug: das Bild einer sanften, duftenden, zärtlichen Frau. Er würde auch in der langweiligsten, nichtssagendsten weiblichen Gestalt noch eine Mona Lisa sehen. Und als sie im Spiegel ihr schmales, feingemeißeltes Gesicht betrachtete, dachte sie: ich bin weder langweilig noch nichtssagend. Aber für Frank werde ich - wie jede andere junge Frau - die Verkörperung von Süße und Schönheit sein. Er wird kommen - mit der Schnelligkeit eines abgeschossenen Pfeils wird er zu mir kommen. «O Gott», rief sie plötzlich verzweifelt. «Es wäre zu grausam.»
    In dem kleinen Raum hinter dem großen Schlafsaal, in dem sie saß, ging plötzlich die Tür auf, und grinsend kam Walter herein. «Kannst du heute abend kommen? Mutter geht aus — zu Mrs. Swingler. Ich hab eine Flasche Whisky besorgt - wir können feiern.»
    Er hatte keinen günstigen Moment erwischt. «Was fällt dir ein, hier hereinzukommen», sagte sie wütend. «Ich kann heute abend nicht, ich hab Dienst.»
    «Ach Alice, nun sei doch nicht so.» Er setzte sich auf die Tischkante. «Heute ist Waffenstillstand! Überall wird gefeiert, sie machen Freudenfeuer, es wird getanzt. Aber wir können auch ganz für uns feiern, nur wir beide allein», flüsterte er.
    «Ich hab dir doch gesagt, ich habe Dienst.»
    «Aber heute ist Waffenstillstand», wiederholte er etwas gereizt. Zornig sprang sie auf. «Glaubst du, die Unterzeichnung des Waffenstillstands hat alles übrige ausgelöscht? Meinst du, die armen Kerle hier drinnen stehen jetzt einfach auf und gehen nach Hause - wie auf der Bühne, wenn der Vorhang fällt? Leider nicht, mein Lieber, ihre Wunden müssen weiter verbunden, ihre Betten frisch gemacht werden - für manche ihr Leben lang!»
    «Ja, aber heute wird doch überall gefeiert! Im Rathaus -»
    «Was sie im Rathaus machen, kümmert mich nicht. Im Saal vier geht jedenfalls alles den üblichen Gang.»
    Er sah enttäuscht aus. Manchmal ist er wirklich wie ein Kind, dachte sie, und dabei ist er zehn Jahre älter als ich. Beleidigt sagte er: «Das nächste Mal suche ich mir keine Krankenschwester aus.» Das nächste Mal? Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war nicht mehr zornig. Als sie jetzt sprach, war sie es, die sich anhörte wie ein Kind - ein Kind, das Trost und Rat suchte. «Frank wird bald zurückkommen, Walter», sagte sie.
    «Ja», sagte er unsicher. Walter war ein ungeschliffener, nicht sehr feinfühliger Kerl, aber selbst ihm war klar, wie er vor Frank dastand: ein Schlachter, der einem Soldaten die Braut ausgespannt hatte. Nicht gerade eine Heldentat. Aber Walter kannte nur einen Weg, mit einem Minderwertigkeitskomplex fertig zu werden. «Was willst du machen?» fragte er grinsend. «Schickst du ihm seinen Ring zurück, dem Schullehrer?»
    Alice schwieg. Sie saß zusammengekauert auf ihrem Stuhl und kaute auf dem Zeigefingerknöchel. Schließlich blickte sie auf und sagte kalt: «Danke. Du hast mir den Entschluß leichter gemacht.»
    «In Ordnung, mein Mädchen. Ich wußte, du heiratest keinen Hungerleider.»
    Ruhig erwiderte sie: «Ich hab es anders gemeint, Walter. Ich wollte sagen: danke, daß du mir gezeigt hast, wie mittelmäßig und unbedeutend du bist.»
    «Unbedeutend?» Er starrte sie an, sein Mund öffnete und schloß sich wie ein Fischmaul. «Weißt du, wie hoch mein Jahresumsatz ist?»
    Sie fing an zu lachen. Es war ein müdes, erschöpftes Lachen, das sehr schnell in Weinen überging. Sie schluchzte, als bräche ihr das Herz. Unbeholfen legte er die Arme um sie. «Aber, aber, mein
    Mädchen — ist ja schon gut», murmelte er erschrocken und hilflos. Sie klammerte sich an ihn. Sie hätte sich an jeden geklammert.
     
    Irgendwo in Flandern sang ein Vogel. Es war nur ein monotones Zirpen, aber es erinnerte an Zeiten, in denen der Gesang der Vögel noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher