Und der Wind bringt den Regen
Schloß.
«Das Kind mitzunehmen, so spät!» sagte Oma böse.
«Einen Hausschlüssel will sie haben! Nicht zu fassen», regte sich Opa auf. «Das haben wir alles dem Krieg zu verdanken.»
«Und von meinem Becher Kakao hat sie überhaupt nichts gesagt», meinte Oma entrüstet.
6
Benbow trabte stumm neben seiner Mutter her. Niemand sah ihm an, daß er vor Aufregung brannte.
Nebel hing in den Straßen. Das Pflaster war feucht, und die Häuser türmten sich vor Benbow auf wie Felswände. Die Straßenlaternen waren noch abgedunkelt, aber in vielen Zimmern brannte Licht, und die Vorhänge und Jalousien waren hochgezogen. Lange genug war man im Dunkeln durch die Straßen getappt, jetzt waren sie erleuchtet wie ein Märchenland.
Am Ende einer Menschenschlange blieb Nell stehen. Benbow war selig. Sie fuhren mit der Straßenbahn! Die Bahn kam und war fast voll, aber Nell bekam noch einen Platz und nahm Benbow auf den Schoß. Er freute sich über jedes Schlingern in den Kurven. Der Mann neben Nell sagte: «Auf dem Marktplatz verbrennen sie den Kaiser. Gehen Sie auch hin?»
«Ja», sagte Nell.
Benbow bekam es mit der Angst. Er wollte den Kaiser nicht brennen sehen; sonst würde der ihn womöglich nachts im Traum heimsuchen. Doch wie immer behielt er seine Bedenken für sich, und als sie am Marktplatz ausstiegen, standen dort schon so viele Menschen, daß er nichts sah als den Rücken des Herrn vor ihm. Er war sehr erleichtert. Wenn er nichts sehen konnte, würde ihn der Kaiser sicher in Ruhe lassen.
Aber seine Mutter machte diese Hoffnung bald zunichte. Sie beugte sich zu ihm nieder und sagte: «Es ist noch nichts zu sehen, mein Liebling. Wenn es losgeht, hebe ich dich hoch.»
«Warum verbrennen sie den Kaiser, Mam?»
«Weil er den Krieg angefangen hat. Wenn er es nicht getan hätte, wäre unser Dad noch am Leben, und viele andere Männer auch. Wir werden ihm zeigen, was wir von ihm halten.»
Benbow konnte seine Gedanken noch nicht in Worte fassen, aber es kam ihm reichlich drastisch vor, daß die Menschen auf diese Weise zeigen wollten, was sie vom Kaiser hielten. Die erregte Menge wurde schon ungeduldig. Einige Leute begannen zu singen, andere fielen ein. Es waren Lieder, die sie vier Jahre lang immer wieder gesungen und gehört hatten, Lieder von Herzensleid und nie versiegenden Tränen, bedeutungsvoller als Beethovens Neunte oder die Matthäuspassion. There’s a long long trail a-winding, klang es über den Platz, und Keep the Home Fires burning… Die Stimmen schwollen an, zögerten bei gefühlvollen Passagen voll Trauer und Mitleid für die Gefallenen. Nell sang mit und lächelte den neben ihr Stehenden zu, bis plötzlich ihre Stimme brach und Tränen hemmungslos über ihr Gesicht strömten. Es war, als brächen alle Ängste und Sorgen des Krieges, die sie so lange für sich behalten hatte, aus ihr heraus.
«Na, mein Mädchen — so naß im Gesicht!» sagte eine fröhliche Stimme hinter ihr. Zwei Arme legten sich um ihre Schultern, und ein angegrautes Taschentuch schob sich in ihre Hand. «Nun trockne dir erst mal die Tränen ab, ja?»
«Taffy!» rief Nell. «Wo kommst du auf einmal her?»
«Ich hab dich von weitem gesehen und hab mich einfach durch-: gedrängt. So was geht nur, wenn man klein ist. Und das ist also dein Sohn?» Überaus höflich schüttelte er dem begeisterten Benbow die Hand und sagte: «Guten Tag, Benbow. Schönes Wetter für November, nicht wahr?»
Nell hatte Taffy noch nie so gesehen, so kraftvoll, sicher und gelassen. Sie war zu unerfahren, um zu wissen, was Alkohol - in der richtigen Menge genossen - zu tun vermag.
Bevor Benbow etwas auf die höfliche Begrüßung erwidern konnte, richtete sich Taffy wieder auf und sagte:
«So - und jetzt kommt England, unser Vaterland.» Seine klare Tenorstimme hob sich über den Lärm, und die anderen fielen ein. Nell sang nicht mit. Dankbar lächelte sie Taffy zu. Sie griff fester nach Benbows Hand und war glücklich, Taffys Arm zu spüren, der sie umschlungen hielt. O wenn es doch so bleiben könnte! , Nur sie und ihr Sohn und ein Mann, den sie lieb hatte, mitten in der großen anonymen Menschenmenge. Aber der Zeiger der; Markthallenuhr stand schon auf neun - es wurde Zeit, nach Hause zu gehen.
Enttäuscht merkte sie, daß Taffy sie nicht mehr festhielt. Er beugte sich zu Benbow hinunter und sagte: «Da unten siehst du ja gar nichts — komm mal her.» Er setzte sich den Jungen auf die Schultern, und Benbow blickte zögernd um
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