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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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sich.
    Er sah mehr als tausend Menschen, die lachten und sangen und Fahnen schwenkten. Mitten auf dem Platz war ein großer Haufen Holz — alte Möbelstücke und Brennholz und Äste, und ganz oben auf dem Haufen war eine riesengroße Gestalt, mindestens drei Meter hoch, mit Orden behängt, über dem Pappgesicht mit dem aufgemalten Schnurrbart, das streng und furchteinflößend blickte, saß der Preußenhelm mit der stählernen Spitze.
    Benbow sah den Kaiser an. Der Kaiser sah Benbow an.
    «Den mag ich nicht», sagte Benbow mit strampelnden Beinen. Gerade in diesem Augenblick ging ein Schrei durch die Menge.
    Flammen leckten hoch bis zu den Stiefeln des Kaisers. Das Prasseln des Feuers klang wie Höllenlärm. Fest schloß Benbow die Augen; er konnte den Gedanken nicht ertragen, dem Kaiser beim Sterben zuzuschauen. Er begriff nur undeutlich, daß die schreckliche Gestalt da oben nicht aus Fleisch und Blut war, aber seine Angst wurde dadurch nicht vermindert. Er wollte das nicht sehen.
    Plötzlich wurde es so strahlend hell, sogar hinter den geschlossenen Lidern, daß er dachte, das Ende der Welt sei gekommen und Gottvater selber sei auf dem Marktplatz von Ingerby erschienen.
    Aber es war nicht Gott, sondern ein brennender Magnesiumstab, der die Flammen des Scheiterhaufens zu trübem Gelb verschwimmen ließ. Der ganze Marktplatz strahlte wie in einem endlosen Blitzlicht. Die viktorianisch-gotische Markthalle, sonst von schwärzlichem Grau, leuchtete wie ein Feenschloß. Doch die vom Hunger gezeichneten blassen Menschengesichter wirkten in dem grellen Licht wie Totenköpfe oder Teufelsmasken: tausend lachende Teufel starrten wie entrückt auf das lodernde Feuer, das gierig an den Gliedern des brennenden Kaisers fraß. Und während Benbow zu ihm hinüberblickte, zerbarst der Leib, Flammen züngelten daraus hervor, der Kopf fiel zur Seite und die blicklosen Augen starrten zum Himmel. Benbow erstarrte vor Grauen. Aber er gab keinen Laut von sich.
    Als das gleißende Licht erlosch, war auch das Feuer seiner Macht beraubt. Die Funken, die züngelnden Flammen erstarben allmählich, und der Kaiser aus Pappe und Sägemehl war nur noch eine tote Puppe. Auch die Stimmung der Menge änderte sich. Lachen und Übermut schienen plötzlich ungehörig, und spontan stieg ein Lied auf, in das alle einfielen: Nun danket alle Gott.
    Die Engländer, hätte Opa Dorman gesagt, sind Gott sei Dank immer noch ein Christenvolk.
     
    Taffy stand hinter ihr, Benbow saß auf seinen Schultern. Seine Arme hielten sie umschlungen, warm und liebevoll. Als sie sang, preßte sie das Kinn gegen seinen Arm, legte dann den Kopf zurück und sah lächelnd zu ihm auf. Das liebe vertraute Gesicht so nahe vor sich — dem konnte er nicht widerstehen. Er senkte vorsichtig den Kopf und drückte einen Kuß auf die weichen Lippen.
    Sie lehnte sich an ihn, müde, doch unendlich zufrieden. Die Hymnen—man sang jetzt «Du bist mein Fels im Meer» - wirkten so wohltuend auf sie wie ein warmes Bad. «Fels im Meer, Zuflucht mein - Stab und Stecken sollst du sein.» Sie lehnte sich fester gegen ihn und schmiegte den Kopf an seine Brust. Dabei entdeckte sie, was sie im Grunde immer schon gewußt hatte: ein Fels im Meer war Taffy nicht. Er geriet ins Wanken, weil er Nell und Benbow nicht gleichzeitig halten konnte, trat jemandem auf den Fuß und erntete einen halblauten Fluch dafür. Nell mußte sich am Arm des vor ihr stehenden Mannes festhalten. Der kurze warme Traum war verflogen, sie blickte auf die Uhr über der Markthalle. «Taffy! Ich muß gehen — es ist schon fünf vor halb zehn!»
    «Gehen?» fragte er. «Wohin denn?»
    «Nach Haus natürlich. Der alte Mann bleibt extra auf.»
    «Nach Hause? Du gehst noch nicht nach Hause, mein Mädchen. Nicht wahr, Benbow?» Er kitzelte den Jungen am Knie. Benbow lachte halb verlegen, halb erfreut, und versuchte die Hand von seinem Knie wegzuschieben. Er war solche vertraulichen Scherze nicht gewohnt und schätzte sie nicht sehr.
    «Ich muß aber, Taff. Sie wollten mich gar nicht weglassen.»
    «Warum denn nicht?»
    «Ach - sie sagten, es wären zu viele Betrunkene auf den Straßen.»
    Schweigen. Dann sagte er: «Manche Leute versuchen noch den Erzengel Gabriel zu übertrumpfen.»
    «Ich muß wirklich gehen, Taff.»
    «Kommt nicht in Frage», sagte er trotzig. «Erst müssen wir auf den Sieg trinken.»
    Erstaunt sah sie ihn an. Daß Taffy Evans eine Entscheidung traf und eine Sache in die Hand nahm, hatte sie noch nie

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