Und der Wind bringt den Regen
wahr - sie liebte Tom! Auch wenn sie in Taffys Armen lag, liebte sie Tom. Der Gedanke an Taffy ließ sie noch schneller gehen. Sie wollte noch einmal mit Taffy tanzen und dann mit ihm nach Hause gehen, zu dem Kerzenlicht und dem rosa Satin, die Tür zumachen und die ganze Welt ausschließen — alle Menschen ausschließen, nur die einsamen Toten nicht.
Noch ein kurzes Stück, dann waren sie an dem hohen schmiedeeisernen Tor des Spielplatzes. Merkwürdig, daß sie die Musik noch nicht hörten. Auch die Lichter müßten schon zu sehen sein - die hellen Lichter, die das andere Bild auslöschen sollten, das stickig-dumpfe Schlafzimmer mit der alten Frau, tückisch noch in der Niederlage, wie eine verkrüppelte Wespe.
Keine Lichter. Und das Tor war geschlossen. Ein Parkwächter legte gerade Schloß und Kette vor.
«Können wir nicht mehr rein?» fragte sie hilflos.
Er blickte nicht einmal auf. «Morgen früh um neun können Sie wieder rein.»
«Wie spät ist es denn?» Den Luxus einer Uhr hatte Nell nie gekannt.
«Kurz nach elf.»
«Ist es denn schon aus?» fragte sie kläglich.
«Wir sind hier nicht in London», sagte er streng. «Hier achten die Leute noch darauf, daß sie zu einer christlichen Zeit ins Bett kommen.»
Sie gingen. Vor einer Stunde noch war die Nacht hell und fröhlich gewesen; jetzt stand ein alter Mann da und verschloß die Tür zum Himmelreich. Vier bittere Jahre waren zu Ende, ein starker Feind war besiegt, der ewige Friede war angebrochen — Grund genug zum ausgelassenen Feiern. Bis Punkt elf Uhr. Für den englischen Bürger genügte das.
Sie waren jetzt beide rechtschaffen müde. Nell nahm Ben auf den Arm und trug ihn ein Stückchen. Sie mußte ihn aber bald wieder absetzen, weil er zu schwer war. «Komm, mein Herz, es ist nicht mehr weit.» Er ging mit schleppenden Füßen und blieb oft einfach stehen. Dann zog sie ihn weiter, aber es wurde jedesmal schwieriger. Hoffentlich hatte Taffy den Kessel aufs Feuer gesetzt, damit sie gleich Tee machen konnte. Taffy war rücksichtsvoll, aber nicht sehr zuverlässig. Es hing ganz davon ab, ob er dran dachte.
Albion Street, endlich. Sie zählte laut die Hausnummern, um Benbow munter zu machen: «Fünfundsechzig, siebenundsechzig, neunundsechzig», und dann, fröhlicher, als ihr zumute war: «Einundsiebzig!» Sie schloß die Haustür auf, und sie traten in das dunkle Zimmer. «Hallo!» rief sie.
Kein freundlicher Lichtstrahl war zu sehen. Sie tastete sich vorwärts und öffnete die Tür. Das Wohnzimmer war kalt und dunkel. Das verstand sie nicht. Sie zündete schnell eine Kerze und das Gaslicht an. Dann sagte sie: «Komm, Ben. Schnell ins Bett.»
«Wo ist Mr. Evans?» fragte er.
«Noch nicht da, mein Junge. Komm, ich bring dich ins Bett.»
Sie nahm ihn mit nach oben, zog ihn aus, fuhr ihm mit dem Waschlappen übers Gesicht, deckte ihn zu, hörte sich das müde kleine Gebet an und küßte ihn. Dann nahm sie die Kerze, ging über den kleinen Flur in Vanwys Zimmer und klopfte an. Stille. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Das Zimmer war leer. Nur der Duft von Vanwys Parfum erinnerte an sie.
Sie schloß die Tür und ging auf ihr und Taffys Schlafzimmer zu. Die Tür war geschlossen. Eine Minute lang blieb sie schweratmend davor stehen, dann machte sie die Tür auf, beschattete die Kerzenflamme mit der Hand und trat ein.
Das Zimmer war leer, die seidig schimmernde Bettdecke glatt und unberührt. Doch zum erstenmal empfand sie nicht, wie sonst, Trost und Glück beim Anblick des geliebten Zimmers. Sie ging nach unten, legte Holz und ein paar Stück Kohle auf die graue Asche im Herd, wartete, bis es aufflammte, füllte den Kessel und stellte ihn aufs Feuer. Dann deckte sie den Tisch, drei Tassen, ein Kännchen mit Milch und die Teekanne. Dann setzte sie sich und wartete.
Sie kamen um Mitternacht.
«Hallo, Nell», sagte Vanwy. «Vielen Dank, daß du mir Taffy ausgeliehen hast. Tanzt wie ein Engel.» Sie ließ sich in den Sessel fallen und schleuderte die Schuhe von den Füßen.
«Zu schade, daß du nicht zum Tanzen geblieben bist, mein Mädchen», sagte Taffy bekümmert. «Ich dachte, du würdest zurückkommen.»
Nell schenkte Tee ein. «Habt ihr bis jetzt getanzt?»
«Wir haben keinen Tanz ausgelassen», sagte Taffy und sah Vanwy an. «War herrlich. Ich hätte nicht gedacht, daß sie so lang machen würden. Richtig schade, daß du nicht da warst, Nell.»
«Nimm dir Zucker, Van», sagte Nell. «Ich dachte, es sollte um elf Schluß
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