Und der Wind bringt den Regen
gekränkt aus, und schon tat es Nell leid. So war sie doch sonst nicht. Aber irgend etwas in ihr war zum Zerreißen gespannt, und das beunruhigte sie, weil es ihr neu war.
Geduldig brachte sie Oma ins Bett, brachte ihr den Kakao und stand an ihrem Bett, als Oma sagte: «So, und nun bring den kleinen Kerl schnell ins Bett, Nell. Ist ja schon Stunden über seine Zeit. Er ist hundemüde.» In diesem Augenblick zerbarst tatsächlich etwas in Nell. «Zu Bett?» sagte sie. «Wieso? Er geht noch nicht zu Bett - wir gehen zurück zum Fest.» Schon der Gedanke an noch eine Straßenbahnfahrt lähmte sie fast, so todmüde war sie. Aber die Lichter und die Musik! Sie mußte noch einmal hin, und wenn es nur für zehn Minuten war.
«Zurück?» fragte Oma entsetzt. «Er schlief ja schon fast im Gehen ein, als wir nach Hause kamen!»
«Trotzdem bist du nicht auf den Gedanken gekommen, daß wir zuerst ihn ins Bett bringen sollten.»
Oma saß im Bett und zupfte an der Bettdecke. Eine Träne erschien in ihren gelben Augenwinkeln. «Das war nicht nett von dir, Nell», sagte sie still. «Das hat mir sehr weh getan.»
«O Gott», sagte Nell reumütig. «Entschuldige.» Sie blickte Oma an. Formlos wie ein Kartoffelsack saß sie da, zog fröstelnd das weißliche Bettjäckchen um sich und schniefte und ächzte. Ihre eingefallenen Wangen waren naß. Arme Alte, dachte Nell. Was hat sie noch vom Leben?
Mit einem Anflug von Stolz, den Nell an ihr nicht kannte, sagte Oma: «Ist schon gut, Nell. Ich kann nicht erwarten, daß du weißt, wie einer Mutter zumute ist.»
«Ich bin seine Witwe, Mutter», gab Nell sanft zurück.
«Nein, das bist du nicht!» sagte Oma gehässig. «Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du die Frau von diesem Taffy.» Ihre Lippen bewegten sich, sie kostete genüßlich die nächsten Worte. «Du bist treulos gewesen», sagte sie.
Die zwei Frauen starrten einander an: die eine jung und stark, die andere alt, furchtsam, farblos, nicht viel mehr als ein Teil ihrer Bettdecke. Wieder riß etwas in Nell entzwei. «Ich bin seine Witwe, Mutter», sagte sie ruhig. «Und ich werde ihn lieben und achten, solange ich lebe.»
Die alte Frau duckte sich, ihre Hände hielten die Kakaotasse, und sie sah Nell ängstlich an.
«Ich liebe Taffy», fuhr Nell fort. «Aber das ist jetzt ein ganz neues Leben.» Sie wollte es erklären, fand aber nicht die richtigen Worte. «Damals, als Tom starb, ist so vieles mit ihm gestorben. Man muß eben mit dem weiterleben, was übriggeblieben ist.» Noch immer blickte die alte Frau sie an, ohne Verständnis und ohne den Willen, sie zu verstehen.
«Du weißt gar nicht, wovon ich rede, nicht wahr?» sagte Nell. «Für dich ist Tom unser ruhmreicher Toter, das höchste Opfer, das wir dem Vaterland gebracht haben - nicht mehr der liebe gute Junge, der einmal gelebt hat und heute noch leben sollte, aber der nun tot ist.» Sie spie die letzten Worte mit so viel Gehässigkeit aus, daß sie selbst überrascht war und plötzlich erkannte, was sie da gesagt hatte.
Und obwohl Oma noch genauso unappetitlich aussah wie vorher, beugte sich Nell jetzt über sie und küßte sie auf die Stirn. «Gute Nacht, Mutter.» Sie nahm die Tasse und stellte sie auf den Nachttisch. «Versuch zu schlafen.» Sie drehte das Gas kleiner und ging ruhig zur Tür. «Gute Nacht.»
Lizzie Dorman blickte sie schweigend an, verletzt bis auf den flachen Grund ihrer Seele, das sah man. Nell machte die Tür zu und ging nach unten, um Benbow zu holen.
12
Benbow war auf dem kleinen Sofa eingeschlafen. Aber als er jetzt aufwachte, war er zu weiteren Taten durchaus bereit. Nell fühlte sich nach dem Auftritt mit Oma erschöpft und müde, aber an
Schlaf war nicht zu denken. Sie wollte laufen, rennen, tanzen, bis zum Umfallen. «Wollen wir noch mal zurückgehen, Benbow?» fragte sie. Benbow nickte begeistert. «Dann komm», sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Sie gingen zu Fuß, der Festplatz lag nur eine knappe Meile vom Haus entfernt. Benbow trabte neben seiner Mutter her. Sie ging schnell und immer schneller; hart traten ihre Absätze auf die Pflastersteine. Untreu. «Du bist untreu gewesen», hatte Oma gesagt; die Worte hatten sie getroffen wie ein Peitschenschlag. Untreu - wem denn? Dem armen hilflosen Toten? Die Frage der Untreue muß sich wohl jeder stellen, der zum zweitenmal heiratet. Nell hatte sie sich hundertmal gestellt und doch keine Antwort gefunden. Jetzt wußte sie, was andere Menschen darüber dachten. Aber es war nicht
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