Und der Wind bringt den Regen
crise de nerfs, der dumme Junge.»
Benbow hatte keine Ahnung, was eine crise de nerfs bedeutete (auch Tante Edith hatte den Ausdruck erst kürzlich aufgeschnappt), außerdem kannte er weder Lloyd George noch Bobbie Parfitt und war erstaunt - und leicht geschmeichelt -, als man ihn eilig mit weißer Perücke und Zylinderhut versah und ihm einen Schnurrbart auf die Oberlippe klebte. «Du nimmst Crystal bei der Hand», instruierte ihn Tante Edith, «führst sie quer über die Bühne zur Britannia und verneigst dich, dann kommst du denselben Weg zurück. Das ist alles.»
«Ich hab aber keine Lust dazu», stellte Benbow ungerührt fest. «Mein lieber Junge, wir müssen oft etwas tun, wozu wir keine Lust haben», sagte Tante Edith mit mühsam gebändigter Ungeduld. Wenn sie allerdings mal etwas tun mußte, wozu sie keine Lust hatte, ließ sie es ihre Umgebung deutlich spüren.
«Warum hat Crystal ’ne Möwe auf dem Kopf?» Benbow hielt es für geraten, das Thema zu wechseln.
Es gelang Tante Edith mit einiger Mühe, ihre Gereiztheit im Zaum zu halten. «Das ist keine Möwe, Benbow, das ist die Friedenstaube. Crystal ist nämlich der Frieden, weißt du.» Für einen Augenblick nahm Crystals Gesicht so etwas wie einen friedfertigen Ausdruck an. «Und das hier ist Ethel Ramage, die Britannia, und wer Lloyd George ist, wirst du ja wohl wissen.»
«Das bin ich», sagte Benbow stolzgeschwellt.
«Lloyd George ist der Premierminister», sagte Edith mit einem Seufzer. «Der Architekt des Friedens. Er bringt also den Frieden— das heißt, du bringst Crystal - zur Britannia, also zu Ethel Ramage, verstehst du? Du wirst das bestimmt prima machen», sagte sie und versuchte zu lachen.
Benbow traute dem Frieden noch nicht. «Und wenn nun die Taube wegfliegt?» fragte er vorsichtig.
«Die ist doch ausgestopft», sagte Tante Edith erschöpft. Offenbar wollte ihm diesmal keiner zu nahe treten, und normalerweise tat Benbow auch, was man von ihm wollte. Er machte sich also bereit, und als ihm Tante Edith (die am Klavier mit einer Instrumentalbearbeitung des Hallelujah kämpfte) auf ein Stichwort hin zunickte, trat er vor, verbeugte sich vor seiner Cousine, überzeugte sich noch einmal, daß sein Schnurrbart noch am richtigen Platz saß, und führte die robuste tapsige Friedensgestalt über die Bühne, wobei er die Augen nicht von der ausgestopften Friedenstaube ließ, die auf den goldblonden Locken schwankte.
Das Publikum klatschte pflichtgemäß, aber Benbow stieg der Applaus so zu Kopf, daß er am liebsten den ganzen Auftritt wiederholt hätte. Doch er mußte schnell Platz machen, denn nun erschien Viktoria, die Siegesgöttin, mit ihren Gefährtinnen Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit. Man nahm ihm Perücke und Zylinder ab und dann auch den Schnurrbart, was nicht ganz schmerzlos vor sich ging, aber er durfte ihn behalten und heftete ihn sich sofort wieder an, um Oma damit zu erschrecken, was ihm nicht gelang, weil sie kurzsichtig war. Sie sagte: «Er hat da eine Blase an der Lippe, Nell - versuch’s doch mal mit Vaseline.»
Das Orchester spielte Frohe Stunden. Und es waren frohe Stunden - glückliche, selige Stunden. Die untergehende Sonne hatte ein wenig Ruß und Rauch aus der Stadt genommen und in die abendlichen Farben des Sommerhimmels gemischt: orange und purpur, scharlachrot und dunkelgelb leuchtete das Firmament, ein herrlich farbiger Hintergrund vor den flackernden Papierlaternen über der Tanzfläche, wo sich die Tanzenden im Rhythmus der Melodie wiegten. Frohe Stunden! Die Musik ergriff die Tänzer und schwang sie herum, die Köpfe zurückgeworfen. Ausgelassenes Lachen erklang überall.
Benbow war fast eingeschlafen und hörte noch im Schlaf die bestrickend süßen Töne; er wußte auch noch im Schlaf, daß ihn Vanwy im Arm hielt, daß er mit dem Kopf an ihrer Brust lag und ihr süßes Parfum die Luft war, die er einatmete.
Vanwy hielt ihn fest und sah dabei den Tanzenden zu. Die rätselhaften dunklen Augen folgten den Schritten der anderen, folgten ihrer Cousine Nell — tanzen konnte sie - und auch Taffy, der sich so leichtfüßig drehte, als schwebe er. Er und seine Partnerin schienen kaum den Boden zu berühren. Nachdenklich blickte Vanwy auf Benbow herunter, zog ihn fester an sich und fuhr mit den Lippen über sein Haar. «Schade, daß du nicht älter bist, Jungchen. Zwanzig Jahre älter - das wär was, du.»
«Was?» murmelte Benbow und versuchte, die Augen aufzuschlagen. Aber jetzt sah er zwei kühle
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