Und der Wind bringt den Regen
fragte sich zum hundertstenmal, wie ausgerechnet sie, die barfuß über die Waliser Hügel gelaufen und im kalten Meerwasser herumgesprungen war, in dieser englischen Stube gelandet war und mit Menschen zusammenlebte, die ihr fremd waren und es auch immer bleiben würden.
Opas Schnarchen brach ab, seine Finger griffen nach der Zeitung. «Hat geklingelt, Nell», murmelte er.
«Ich geh schon.» Sie war bereits auf dem Weg.
Vor der Tür stand Frank Hardy. «Frank!» rief sie, und die Freude stand ihr im Gesicht.
Er sah sie kaum an. «Ist sie da? Alice?» fragte er.'
«Ja. Komm rein.» Wie schön — er wollte zu Alice!
Drei Augenpaare blickten auf, als er ins Zimmer trat. Oma sagte nichts, ihr Blick war feindselig. Ein Mann, der den Krieg überlebt und dann auch noch Alice hatte sitzenlassen, konnte von ihr kein freundliches Wort erwarten. Aber der alte Mann war gleich auf den Füßen. «Frank», sagte er. «Nanu? Nell, mach Frank mal eine Tasse Tee. Und mir bitte -»
Frank schüttelte ungeduldig den Kopf. Er sah auch die beiden Alten nicht an; sein Blick war auf Alice gerichtet, seit er das Zimmer betreten hatte.
Alice blieb sitzen, das Buch offen auf dem Schoß, und sah Frank kühl entgegen. Sie sagte nichts, sie zog nur die Augenbrauen hoch.
«Kann ich dich allein sprechen, Alice?» fragte Frank.
«Nein.»
Er schluckte. «Ich hab lange drüber nachgedacht», sagte er. «Ich dachte, ich könnte allein fertigwerden. Aber ich kann’s nicht.»
Ihre Augen wanderten zu dem Buch auf ihrem Schoß. Man sah Frank an, wie er mit sich kämpfte. Seine Stimme brach fast, als er sagte: «Ich kann nicht ohne dich leben, Alice.»
Sie hob den Kopf und sah ihn mit ihren dunklen, glänzenden Augen an. «Nicht ohne mich? Mit all meinen Fehlern?»
«Keiner von uns ist fehlerlos», erwiderte er.
«Tatsächlich?» Die zart geschwungenen Brauen zuckten nach oben. «Ich dachte immer, du hieltest dich für fehlerlos.»
«Na, Alice», sagte Opa, «so was sagt man aber nicht. Wenn wir mehr Menschen mit Franks Grundsätzen hätten — Nell, nun geh schon und mach uns allen eine schöne Tasse Tee.»
«Frank will gar nicht bleiben», sagte Alice.
«Also, Alice», protestierte Opa, «Frank ist doch bestimmt hergekommen, weil er bereit ist, zu vergeben und zu vergessen, nicht wahr, Frank?»
«Ja», sagte Frank ernst.
Alice starrte ihn an. «Du verdammter Philister!» schrie sie, schleuderte ihr Buch auf den Boden und stürzte aus dem Zimmer. Man hörte, wie sie, zwei Stufen auf einmal, nach oben lief.
Frank sah verstört und zornig aus. Opa sagte: «Sie weiß nicht, was sie tut, Frank.»
Oma sagte: «Unsere Alice. Früher hat sie nie geflucht.»
Frank hatte sich wieder in der Gewalt. «Mr. Dorman», sagte er. «Ich liebe Ihre Tochter. Aber einen weiteren Versuch werde ich nicht machen.» Er griff nach seinem Hut.
«Aber nein, Frank, Sie müssen wenigstens noch eine Tasse Tee mit uns trinken. Sie wird gleich wieder runterkommen. Vielleicht hat sie sich’s dann überlegt», meinte Opa hoffnungsvoll. Im gleichen Augenblick hörten sie eilige Schritte die Treppe herunterkommen, sie hörten die Haustür gegen den losen Fliesenstein scheppern und die Tür krachend zuschlagen. Es hörte sich nicht so an, als habe sich Alice eines anderen besonnen.
Frank hob die Schultern und ging hinaus. Nell brachte ihn durch den Flur und öffnete die Haustür. «Es tut mir so leid, Frank», sagte sie traurig.
Einen Augenblick blieb er stehen und starrte sie an. Dann nickte er kurz, schüttelte den Kopf und ging.
An diesem Samstagnachmittag (es war einer der ersten winterlichen Tage, Nebel kroch durch die Straßen, und die Winterdämmerung legte sich lähmend über die Stadt) - an diesem Samstagnachmittag bekam der Schlachter Walter Snape unerwarteten Besuch.
Er hatte einen Teil seiner Kriegsgewinne zur Modernisierung seines Ladens benutzt. Im hellen elektrischen Licht glänzten Bratwürste und Frankfurter und Schweinsfüße, die aussahen, als seien sie gerade einem heißen Bad entstiegen, und Blutwurst und Schwarzsauer. Herr über dieses Gebiet aus sattem Behagen war Walter, der lässig den Blick über die wartenden Kunden schweifen ließ und plötzlich Alice Dorman unter ihnen entdeckte.
Was zum Teufel will sie hier? dachte er. Aber er ließ sich nichts anmerken, sondern schnitt Fleisch und wog Wurst ab und bediente weiter.
Sie war dünner geworden, und sie sah älter aus. Ihre Augen glitzerten in dem hellen elektrischen Licht. Er
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