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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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nicht.
    Als er das scharfe zischende Geräusch hörte, mußte er an Schlangen und wilde Tiere denken. Aber es war etwas anderes: Tante Edith kam mit dem Rohrstock. Einer nach dem anderen mußte die Hand ausstrecken, und dann - huiii! Sie wanden sich, bissen die Zähne zusammen. Aber das - konnte sie doch mit ihm nicht machen!
    Er irrte sich: sie konnte. (Sie wußte sehr wohl, es war sein erster Tag; aber sie handelte nach dem gesunden Prinzip, je früher, desto besser.) Der Schmerz fuhr Benbow durch den ganzen Arm, aber die Schmach war noch schlimmer. Und sein bereits gefüllter Kelch floß über, als er hinter sich eine selbstzufriedene Stimme hörte: «Ich hab neun von zehn richtig.» Er fuhr herum und sah in Crystals glitzernde Augen. Ihr Rosenknospenmund lächelte triumphierend. Das reichte - er hatte genug von der Schule. So viel Angst und Erniedrigung und Wut war zu viel für ihn.
    Nach dem längsten und schrecklichsten Morgen, den er je erlebt hatte, ging er zum Essen nach Hause, wo es still und warm und liebevoll war. «Heute nachmittag geh ich nicht wieder hin», erklärte er.
    Nell sah ihn besorgt an. «Warum — war’s denn nicht schön, mein Junge?»
    «Nicht sehr.» Nein, selbst ihr konnte er nie, nie erzählen, was man ihm angetan hatte.
    Sie nahm ihn in die Arme. «Aber Tante Edith war doch sicher sehr nett zu dir», sagte sie hoffnungsvoll.
    «Ja, aber —»
    «Und die anderen Kinder — fandest du sie nicht nett?»
    Er ergriff seine Chance. «Nicht sehr.»
    «Das wird sich sicher bald ändern, mein Kleiner.» Aber ganz überzeugt war sie davon nicht. Wenn Benbow jemand ablehnte, dann war das für ihn endgültig. «Ja — aber hingehen mußt du trotzdem, Benbow», sagte sie.
    «Warum?»
    «Das ist Vorschrift, weißt du. Wenn du wegbleibst, kommt der Schulinspektor und fragt, was los ist.»
    Ein Inspektor war für Benbow nichts Neues. Manchmal kam einer in die Straßenbahn, prüfte streng alle Fahrscheine und lächelte niemals. Sie trugen so komische Mützen, und die Fahrgäste wurden gleich etwas stiller, wenn einer erschien. «Steckt er mich dann ins Gefängnis?» fragte er unruhig.
    Sie drückte ihn an sich. «Nein, mein Herz. Aber er wird vielleicht sehr böse.»
    Womöglich hatte er einen noch stärkeren Rohrstock! Benbow kehrte also nachmittags in die Schule zurück. Und erhielt einen weiteren Schlag auf seine kleine Hand, diesmal für Lesen.
    Nell hatte ihm eine schöne Teemahlzeit gemacht, als er heimkam: Toastfinger und ein weichgekochtes Ei zum Eintauchen, und Kuchen. «Na, mein Liebes?» sagte sie warm. «War’s heute nachmittag besser?»
    «’n bißchen», log er.
    Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte der Frost die Fenster mit lauter Blumen und Farnen überzogen. Benbows Atem stand wie Dampf in der Luft, und das Linoleum fühlte sich eisig an. In der ganzen bösen Welt gab es nur einen warmen sicheren Ort, das war sein Bett. Sehnsüchtig blickte er es an. Er wollte wieder hineinkriechen, tief unter die Decke, wo weder der Inspektor noch Tante Edith ihn finden konnten... Aber da rief Mam, es sei spät, und er wußte, wenn er zu spät kam, würde er den Stock zu fühlen bekommen, bevor der Tag noch richtig angefangen hatte. Er schluckte und ging nach unten, und nachdem er sein Frühstück kaum angerührt hatte, trottete er zur Schule, die ganze Last der Welt auf seinen Schultern.
    Nell sah ihm nach. Sie litt fast so sehr wie er. Als er eines Morgens wieder nur in seinem Brei herumstocherte, fragte sie ihn besorgt: «Benbow — du kriegst doch nichts mit dem Rohrstock, nein?»
    Mit engelhafter Unschuld sah er sie an und schüttelte langsam den Kopf. Nell war erleichtert. Er schien gar nicht zu wissen, was das war, der Rohrstock.
     
    Tante Ediths Methode war offenbar doch richtig gewesen. Irgendwo in der Tiefe von Benbows Gedanken drängte etwas ans Licht: die Idee, daß sie ihn vielleicht nicht mehr schlagen werde, wenn er gut lesen, schreiben und rechnen konnte. Mit der Hartnäckigkeit und Willenskraft, die er von seinem Vater geerbt hatte, machte er sich an die Arbeit und erreichte tatsächlich, daß ihn in der letzten Quartalswoche der Stock zwei ganze Tage verschonte - zu Crystals unverhülltem Ärger.
    Als die eigenen Schwierigkeiten ein wenig abnahmen, sah er, was Ulrike zu leiden hatte, und der geteilte Schmerz verwandelte sich in das heftige Verlangen, sie zu beschützen.
    Manchmal schob er Ulrike vorsichtig sein Rechenheft hin und nickte ihr aufmunternd zu, die Aufgaben

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