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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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auf den Brennesseln und dem Riedgras — das war eine Freude, die sie fast vergessen hatte. Warum hatte Tom sie nie hierhergebracht? Es wäre schön gewesen, hier mit ihm zu gehen, Arm in Arm, während er mit seinem Stock die Brennesseln köpfte.
    Sie gingen schweigend durch den stillen Morgen. Benbow überlegte, ob Mam wohl so viel Geld hatte, daß sie heute abend wieder mit der Bahn zurückfahren konnten. Und ob dann der Vordersitz wieder leer sein würde. Auch Nell ging vielerlei durch den Kopf. Sie versuchte, an die Zukunft zu denken, Pläne zu machen. Aber das hatte sie nie gekonnt. Es würde wohl einfach immer so weitergehen, bis eines Tages die beiden alten Leute starben. Und dann? Das hing davon ab, ob Benbow dann schon arbeitete, dann konnte sie eine Stellung annehmen, oder ob er noch zur Schule ginge. Noch hatte er ja nicht einmal angefangen!
    «Das ist aber eine hübsche Überraschung!» rief Mabel, als sie in die Tür traten. «Ich habe schon Brote zurechtgemacht, und hausgemachtes Kräuterbier ist auch da!» Sie schwenkte den Steinkrug. «Ziemlich schwer, aber wir brauchen ja nicht weit zu gehen.» Damit hatte sie recht, denn die Aussicht auf das Moor war von überallher nicht gerade einladend.
    Benbow war bereits bei den Ferkeln, an dem Picknick lag ihm nicht viel. Schweine waren für ihn genauso exotisch wie ein Gnu oder ein wildes Tier. Und wie alle kleinen Jungen liebte er kleine Haustiere mehr als große. Daher nahm Mabel einfach einen Strick, band ihn einem der Ferkel u m den Hals und gab Benbow das andere Ende in die Hand, was ihm weit besser gefiel als dem Ferkel.
    Nell und Mabel hatten einander immer gern gehabt. Sie setzten sich auf den kargen Grasboden, über sich Sonne und Feldlerchen, tranken Kräuterbier und redeten nach Herzenslust. Beide fühlten sich glücklich. Nell, weil sie draußen war, im Freien, in der Sonne, erlöst von der freudlosen Enge im Haus Omdurman; und Mabel, weil sie einen Menschen neben sich hatte, der - anders als die übrige Familie - fröhlich lächeln konnte.
    «Es hat mir so leid getan, das mit Taff und deiner Cousine», sagte Mabel liebevoll.
    «Ich danke dir.»
    «Weißt du, ich hatte mich gefreut, als ihr geheiratet habt und in das kleine Haus umgezogen seid. Ja, ein bißchen neidisch war ich auch, ich geb’s zu.» Sinnend schwieg sie eine Weile und sagte dann: «Einjammer, daß es so gekommen ist, Nell.»
    Mitgefühl war etwas Seltenes für Nell. «Schön ist es hier», sagte sie tief aufatmend. «Beinahe wie zu Hause, bloß keine Berge.»
    «Ja — ein paar Berge könnten wir hier gebrauchen, was? Würde hübsch aussehen.»
    Sie saßen im Gras und schwiegen. Benbow, übermütig wie selten, jagte lachend und mit der Zunge schnalzend hinter dem Ferkel her, das sich gelegentlich umdrehte und Benbow jagte. Lerchenstimmen übertönten das entfernte Rollen der Lastwagen, und der Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken hinten am Horizont kroch langsam hinauf ins Himmelsblau. «Von Kräuterbier kann man einen richtigen Schwips kriegen», sagte Mabel. Sie füllte Nells Glas.
    Kräuterbier, Sonnenschein und Mitgefühl: das alles stieg Nell zu Kopf. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich, auf die Hände gestützt, ein bißchen zurück und begann zu singen - ein altes walisisches Lied aus ihrer Heimat, schwer vor Sehnsucht nach den Bergen und Flüssen und nach den Menschen von einst.
    Das Lied erstarb in der weichen Luft. «Merkwürdige Sprache ist das», sagte Mabel. «Aber es klingt hübsch. Sing noch eins, ja?»
    Nell sang noch ein Lied, und Mabel hörte zufrieden lächelnd zu. Plötzlich sah sie zum Sandweg hin und sagte: «Da kommt jemand.»
    Nell öffnete die Augen. Hinten, wo der Sandweg anfing, bewegte sich etwas; es sah aus wie zwei Gestalten, aber genau konnte sie es nicht erkennen. «Besuch?» sagte sie.
    «Glaub ich nicht. Manchmal kommen Leute zum Picknicken her. Oder Liebespaare. Was man da manchmal zu sehen kriegt...» Aber sie lachte nicht bei dieser Bemerkung. Sie ließ die Augen nicht von den beiden winzigen Gestalten, die noch weit entfernt waren.
    Der Nachmittag war still. Unmerklich kamen die beiden näher. Jetzt sah Nell es deutlich: ein großer, breiter Mann und ein kleines Mädchen. Der Mann trug eine Tasche oder einen Beutel. Mabel spähte immer noch angestrengt den Weg hinunter, und ihr Blick war starr und ungläubig, als sähe sie einen Traum. Sie atmete schwer. Dann versuchte sie aufzustehen, ohne die Augen von den beiden abzuwenden, und

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