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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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gewandert waren. Entsprechend gebeugt und gebrochen war nun seine Haltung.
    Deprimiert und wortkarg bestieg Abie Poe einen Zug und fuhr in die nächste Stadt.
    Noch am gleichen Abend kam er bei einer alten Jungfer unter, einer Schweizerin namens Heidi Hoch; er mietete ein Zimmer und wurde ihr einziger Kostgänger. Als fromme Wiedertäuferin ging Heidi auch mit dreiundachtzig noch jede Woche die Viertelmeile zu ihrer Kirche.
    Die weißhaarige Jungfer pflegte ihren kränkelnden Mieter wieder gesund. Doch 1940 erkrankte Heidi Hoch an einem schweren Fall von Schwarzen Masern.
    An ihrem Sterbebett hatte Abie Poe es kaum über sich gebracht, die hämorrhagischen Pusteln auf ihrem Gesicht und ihrer Kopfhaut auch nur anzusehen. So chronisch war der Pemphigus, daß ihr Kopf von schwarzen Ameisen zu wimmeln schien. Und dann hatte Heidi die Augen aufgeschlagen, eine blutrote Hand an ihr Gesicht gehoben und gesagt: »Sieh, was mich befallen hat, Abie. Deine Sünden. Deine Sünden, die ich dir so gerne abgenommen habe. Ich werde sie mitnehmen, wenn ich abtrete. Du bist rein, Abie. Ich habe dich reingewaschen!«
    Abie Poe wickelte Heidis winzige geschnitzte Puppen in ihre handbemalten Leinensachen und Stickereien, packte sie in eine Teekiste und legte oben drauf noch ein weißes Perlenkruzifix. Dann trug er die Schachtel zur städtischen Fürsorgestelle und tauschte das Ganze gegen einen gesetzten schwarzen Anzug und einen großen breitkrempigen, ebenfalls schwarzen Filzhut. Im Spiegel sah Abie Poe einen hageren hungrigen Mann mit einem ernsten strengen Gesicht, in das unermüdliche Reue tiefe Furchen gezogen hatte: er sah einen Mann, der erfüllt war von einer Mission, einer Berufung.
    »Dort wohnt Gott, wie ein Brandmal auf mein Gesicht geprägt«, dachte Abie Poe zur Einübung in sein neues Amt.
    Zurück in dem kleinen Haus, nahm er Heidis Bibel und verließ es dann für immer.
    Von diesem Tag an hämmerte der Wanderprediger bei jeder Gelegenheit auf seine Bibel ein, sei es an Straßenecken oder bei improvisierten Bürgerversammlungen in Bethäusern und Saloons, sei es in den niederen Bezirken der Hurerei oder auf öffentlichen Plätzen, in Parks und Schulen und Gefängnissen, in den Ulmenalleen der Reichen oder den berüchtigten Slums von Salem – sprach die Worte seiner seligen Vermieterin nach und tränkte sie mit lautem Theaterdonner: »Sünde! Überall herrscht Sünde, Sir! Sie liegt auf allem! Madam! Steckt Ihr so tief im Schmutz, daß Ihr das nicht sehen könnt?«
    Aber noch hatte Poe seine wahre Berufung nicht gefunden.
    Erst als ihm Berichte von den abscheulichen Aktivitäten gewisser Familien in den Bergen zu Ohren kamen – von fremdenfeindlichen »Clans«, bei denen Blutfehden, Mord, Vergewaltigung, Kindstötung, Inzucht und so weiter an der Tagesordnung waren –, glaubte der Sündensucher Poe den wahren Auftrag seines Lebens gefunden zu haben.
    Abie Poe kaufte sich ein Pferd und ritt in die Berge. In den Hügeln, die den offiziellen Eingang zum Gebirge bilden, traf er ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren. Sie saß am Wegesrand neben einem dicken Haufen Bettzeug.
    »Tritt näher, Kind. Führe mich zum nächsten Gotteshaus in dieser Gegend«, sagte Poe.
    Das Mädchen stand auf.
    Die Haut ihrer Wangen war rissig und rauh. In ihrer schmutzigen Hand hielt sie eine kleine grüne Natter. Da Poe in ihren Augen die ersten Gerinnsel von Blindheit sah, wiederholte er seine Frage.
    »Eure Kapelle? Wo ist sie? Zeig mir die Richtung.«
    Das Kind hob ein Laken von dem Bettzeug. Darunter lag eine Frau, ihre Haut lebendig von den Parasiten der lange Toten. Das kleine Mädchen sagte stotternd: »Die Würmer fressen Ely auf … meine Ma …«
    Abie Poe deckte die Frau wieder zu und lehnte sie an eine Steintafel, deren Aufschrift mit den Jahren unleserlich geworden war.
    Das Mädchen drehte sich um und schritt, den Prediger im Gefolge, den Bergen zu. Unter jedem Strauch und Stein suchte Poe nach Sündern.
    Sieben Monate währte es, bis Abie Poe auf seinem Klepper wieder aus der Black Morton Range hinausritt. In der Satteltasche eine Flasche Fusel. An beiden Hüften einen Trommelrevolver.
     
    Gewiß blieben seine Pistolen im Halfter, aber das Maß seiner Unduldsamkeit ward nicht geringer; im Gegenteil: Prediger Poe stürmte die Kirche unter wütenden Verwünschungen, wetternden Weissagungen, Offenbarungen und schwülstigen Verheißungen – dröhnendem Widerhall seiner schwarzgewandeten Gesten – und gewann damit das zuweilen

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