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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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er mit Poe davonzog, schien er zu seufzen. Es ging über den Ruhmesweg und dann in nördlicher Richtung über die Maine Road aus der Stadt hinaus dem Sumpfland zu. Ihm nach zockelte die Menge.
    Umschlungen von einem stachligen Lasso, gingen am Himmelsgewölbe zwei ungeheure traubenfarbene Wolken lärmend aufeinander los. So tief hingen die dunklen Kolosse, daß die Kämme beider Talseiten unter ihnen begraben waren, und so vollständig bedeckten sie das Tal, daß die Dreihundert, obschon es mitten am Nachmittag war, kaum zu sehen vermochten, wohin ihr Weg sie führte.
    Der Sturm nahm zu. Abie Poe schwenkte ätherisch eine Petroleumlampe, deren Licht seinen hageren Schädel in Feuerschein tauchte und seine Augen irre funkeln ließ.
    Der Menge, die blind hinter ihm herstolperte, wüste Weisungen zuschreiend, ging Poe voll und ganz in seiner neuen Messiasrolle auf.
    Seine Rhetorik wurde bombastisch, sein Gebaren über alle Maßen lächerlich.
    »Folget mir, o meine Herde! Ich bin das Licht, das in der bodenlosen Grube leuchtet! Wenn Dunkelheit auf allem liegt, wählet mich zu Eurer Leuchte! Denn mein ist der Weg zum Seelenheil! Zur Herrlichkeit! Suchet Ihr Erlösung, Sünder, dann folget mir, denn ich bin der strahlende Stern, der selbst noch flimmert im Tal … der Schatten … des Todes!«
    Aus dem Bauch einer dunklen blauroten Wolke fuhr wie ein silberner Finger die Axt eines Blitzes und spaltete einen abgestorbenen Baum, der rund zweihundert Meter entfernt am Rand der verwüsteten Anbaufläche stand. Poe schwenkte hysterisch die Lampe.
    »Dort drüben ist das Wasser! Denn Gott spricht, und Seine Stimme ist klar! Dort, Ihr Sünder! Dort drüben!«
    Und im Poltern und Rollen der schwarzbäuchigen Regenwolken, die zwei kämpfenden Elchen gleich da oben donnernd zusammenkrachten, hob Abie Poe die Arme über den Kopf und begann fuchtelnd zu singen – mit einem so vollen und kräftigen Tenor, daß sein Gesang ohne weiteres die himmlische Kampfarena erreicht und womöglich sogar besänftigt haben dürfte, wäre das Lied nur nicht gar so niederträchtig gewesen.
    »Ich hab es allen gesagt!
    Den Frevlern, den Verleumdern!
    Den Tagedieben und Spielern!
    Allen hab ich es gesagt:
    Der Herr im Himmel wird Euch strafen!«
     
    Darauf lenkte er seinen Gaul nach Nordosten, bog von der Maine Road ab und stapfte über einen namenlosen Weg eine kleine Anhöhe hinan, auf der, neben einem wuchernden Müllhaufen, eine vom Wetter geschundene Bretterhütte stand. Ihm nach kraxelte die Menge; wie eine feierliche Prozession von Clowns wankten und stolperten sie einem schlammigen Possenstück von Erlösung entgegen.
    Hätte der Blitz nicht dem Galgenbaum den linken Arm abgeschlagen, würde ich vielleicht nie mehr aufgehört haben, mit meinem Blut zu spielen. So aber trieb mich die Sorge um die ungewisse Beschaffenheit meines verbrecherischen Bluts, die Schere aus ihrem Versteck unter dem Galgenbaum auszugraben und in mein Zimmer zu schmuggeln. Ich hatte bereits in meine beiden Handflächen je ein beträchtliches Loch gebohrt, und zwar mit einem schartigen Blechzacken, den ich aus dem grinsenden Rachen einer Falle gebrochen hatte, die – Teil einer umfangreichen Galerie schauriger stählerner Kobolde – rostig und überflüssig an der Hüttenwand hing. Jedenfalls – obwohl die Sache hier ein wenig dunkel wird – richtete ich die Schere nicht gegen mich selbst, sondern erinnere mich nur noch, meine Bettlaken in Streifen geschnitten zu haben, die ich, einen nach dem anderen, zum Verbinden meiner Wunden benutzte. Später, als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, faltete ich die gebrauchten und verkrusteten Bandagen zusammen und packte sie in einen Schuhkarton, dem ich die Aufschrift » Streifen « gab.
    Nach drei Tagen und drei schlaflosen Nächten im verkorkten Mief meiner stickig feuchten Zelle – draußen ein wahres Monster von Mistwetter, mit zackigen grellblauen Mistgabeln, betäubendem Donner und peitschendem Regen – hockte ich dort, grauen Schweiß absondernd, noch immer in meiner Unterwäsche herum, leichenhaft und aschfahl nach so langem Wachen und Fasten und all dem Blutverlust. Nachdem die ursprüngliche Untersuchung der Farbe meines Bluts einen so finsteren Verlauf genommen hatte, puhlte ich die bösen schwarzen Krusten ab, die sich als schaurig tote Kronen über den beiden Wunden wölbten. Nun blubbte frisches Blut hervor, das anfangs hellrot war, dann aber von der Mitte her zu einem düster roten Pamp eindunkelte und

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