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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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Kreis gelben Lichts getreten, worein das Grab und das Denkmal getaucht waren – aber nicht nur das – der Tod, verhüllter Henker des Lebens und strenger Scharfrichter der Zeit – ja, dem bleichen, bleichen Tod waren zwei Hände gewachsen – Hände aus Fleisch und Blut, Haut und Knochen. Und mehr noch, diese zwei sterblichen Hände hielten ein seltsames Bündel, das nach Form und Größe aussah wie ein großer Laib Brot. Und um das Bündel gewickelt war das trockene, aber vermodernde Gewand des Propheten Jonas Ukulore. Von dort, wo ich kauerte, konnte ich sehen, daß der gläserne Schaukasten des Grabmals, in dem Krone, Szepter und Gewand des Propheten aufbewahrt wurden, eingeschlagen war – jetzt fiel mir das Klirren wieder ein, das mich geweckt hatte –, und nachdem ich die Größe des Lochs in der Glasscheibe mit der der Steine, die neben dem Grabmal aufgereiht waren, verglichen hatte, war mir klar, daß wer oder was auch immer sich da so offen in jenem Lichtkreis zu schaffen machte, bestimmt kein Langfinger oder professioneller Dieb sein konnte – nein – und auch nicht der Tod – o nein, Sir – o Madam, ich sage nein – es war nicht der schlimme Sensenmann – auf keinen Fall, das war nicht der Tod.
    Ich sah zu, wie dieser Schwindler – dieser Schuft in der Maskerade des letzten Rätsels; sein Gesicht noch immer unter der Kapuze verborgen – das Bündel auf die zweite Stufe des Denkmals legte. Und als der Scharlatan sich seiner Last entledigt hatte, begann er fluchend die Hände gen Himmel zu schütteln. Und ich sah, daß eine Hand irgendwie verbogen oder mißgestaltet schien. Und da stellte sich mir die Frage, welch andere Deformitäten wohl unter der Kapuze und dem Sacktuch verborgen sein mochten, wenn schon ein derart scheußliches Anhängsel so bereitwillig herausgestreckt wurde.
    Und plötzlich bekamen der Sack und die zwei nicht zusammenpassenden Hände eine Stimme – und es war eine Knabenstimme – und es war eine Knabenstimme – ein schrecklich kreischender Sopran.
    Und obwohl ich kein einziges Wort von seiner im Trommeln des Regens erstickten Tirade verstehen konnte, sagten mir das rasende Tempo seiner Rede und das wilde Gefuchtel seiner Hände, daß dieser Junge irgend etwas mit mir gemeinsam hatte – ein verwandter Geist, ausgestoßen wie ich, ein Bruder im Schmerz. Und – na ja, ihr könnt euch vorstellen, wie aufgeregt ich war, jemand gefunden zu haben, der die Hiebe und Streiche der öffentlichen Verachtung mit mir teilte – einen Gefährten, an den ich mich halten konnte in langen dunklen Nächten und noch längeren und dunkleren Tagen – jemand, an dessen Seite ich meine einsame Furche pflügen konnte – einen Gefährten im Lachen und Weinen – kurz gesagt, einen Freund – und ich harrte einer Gelegenheit, mich ihm zu zeigen, ohne daß er Angst bekam und davonrannte.
    Doch genau in diesem Augenblick ging das Licht in Doc Morrows Praxisfenster an, und gleich darauf warf die Lampe der Veranda ihren Schein auf die Straße.
    Der Fremde hatte sein Geschimpfe abgebrochen und stand jetzt völlig durchnäßt an das Denkmal gelehnt. Und erst als der Arzt aus seiner Praxis kam, am Rand der Veranda stehenblieb und mit einer Taschenlampe in den Regen leuchtete, begann der Junge in der mausgrauen Decke mühsam die Stufen hinunterzuhinken. Mit einer krummen Klaue zog er die Kapuze zurück und warf einen verstohlenen Blick nach dem Arzt, und da ließ ein verräterischer Streifen Lichts ein erbärmlich entstelltes Antlitz erkennen.
    Ich brauchte eine ganze Minute, ehe ich diesem verwüsteten Gesicht einen Namen geben konnte.
    »Verdammt, das ist ja gar kein Junge!« dachte ich und sah die Gestalt sich davonmachen. »Verdammt, das ist ja gar kein kleiner Junge!«
    Doc Morrow überquerte die Straße und kam in den Park, weshalb ich hinter dem Trinkbrunnen hocken bleiben mußte, während … während … während der Tod durch den Nebeneingang davoneilte.
    In seinem weiten blauen Gummimantel und dazu passendem Hut ging der Arzt auf das Denkmal zu, wobei er mit jedem Schritt etwas schneller wurde. Und am Ende rannte er.
    Angekommen, beugte er sich nieder und raffte das ins Kleid des Propheten gehüllte Bündel, das da auf den Stufen abgelegt worden war. Und tief über das Bündel gebückt, hastete er in seine Praxis zurück.
     
    Als ich auf die Maine Road zurücktaumelte, war es pechdunkel; es goß in Strömen, und obwohl ich das ganze nördliche Ende der Maine absuchte, konnte ich sie nicht

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