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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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in dieser Stadt – keine schlendernde, pfeifende, tänzelnde Seele – weder in einem Haus, einem Flur, oder auf einer Treppe – weder auf der Maine Road, noch in Motherwells oder auf dem Memorial Square.
    Und somit erlaubte ich meinem Geist, an diesem Regentag nachzusinnen, und dies so sehr, daß mir fast eine dünne verkrümmte Gestalt entging, die, von Kopf bis Fuß in eine schmutzige mausgraue Decke gewandet, an mir vorüberhumpelte. Das Rätselwesen hatte einen Gang, als wären seine Schuhe mit spitzen Steinen gefüllt. Aus dem rauhen Tuch, das den Fremden umhüllte, war eine tiefe Kapuze geformt worden, und als er so über die Maine Road hinkte, wirkte er auf mich wie einer der ausgestoßenen Aussätzigen aus dem Buche Leviticus, und ich stellte mir die rohen Fleischfetzen unter den Falten des triefenden Sacktuchs vor.
    Die grauen Regenschleier erlaubten mir, akustisch wie optisch unbemerkt, dicht hinter dem elenden Taumler herzuschleichen. Ab und zu knickte die rätselhafte Gestalt wie unterm Stechen einer heftigen Kolik in der Hüfte ein, zog schwächlich hustend die zerlumpte Decke fester um die Schultern und setzte dann ihren Leidensweg fort, immer auf der Mitte der Maine Road.
    Am Park angekommen, verließ die Gestalt die Straße und stellte sich unter einen schmiedeeisernen Bogen – den Haupteingang zu den Memorial Gardens. Umrankt vom Zackengewirr des eisernen Filigranwerks, von purpurnen Rosen und rostigen Engeln, blieb die verhüllte Figur reglos stehen. Über ihr pulsierte knisternd eine gelbe Glühbirne. Ich stand kaum drei Meter entfernt, und meine einzige Deckung war der Regen.
    Ich versuchte, unter der summenden Lichtquelle eine Hand zu entdecken, eine Zehe, einen Streifen Gesichts – irgendeinen Beweis dafür, daß unter der Decke ein Wesen aus Fleisch und Blut existierte –, aber ich sah nichts davon. Und je länger ich über das Rätsel nachdachte, desto mehr schien mir die Gestalt einem Phantom oder verhüllten Gespenst zu gleichen.
    Das Ganze erinnerte mich an eine Illustration, die ich aus einem Buch gerissen hatte, das ich einmal unter einem Stapel zerfetzter Zeitschriften mit nackten Mädchen auf dem Müllhaufen hinter unserer Hütte gefunden hatte. Das Buch hieß Der Bengel des Herrn oder Der Esel auf dem Engel oder sowas ähnlich Schmutziges. Sollten jedenfalls irgendwelche Bilder darin gewesen sein, so waren sie alle herausgerissen – alle bis auf eins, gleich auf der ersten Seite.
    Es zeigte ein kleines Mädchen, das fiebernd und eingefallen und furchtbar krank in seinem Bettchen lag. Es war umgeben von roten und gelben und rosa Blumensträußen, und am Fußende des Bettes stand eine schaurige Gestalt – gehüllt in ein langes Gewand; und was diese Gestalt noch gruseliger aussehen ließ, war die klaffende gesichtslose Kapuze und die leeren Ärmel, von denen einer erhoben war und auf die kleine hohläugige Kranke zeigte. Unter dem Bild stand geschrieben:
    »… und da die Zeit gekommen war, rief der Tod den Engel heim, indem er langsam und klangvoll sagte: ›Engel … Engel … Engel … ‹«
    Ich hatte das Bild aus dem Buch ausgeschnitten und in einen großen Umschlag mit der Aufschrift » Bilder. Ausschnitte. Zeichen. Omen. « gesteckt.
    Als ich die verkrümmt dort im Eingang zum Platz stehende Gestalt näher betrachtete, war ich ganz entgeistert von ihrer Ähnlichkeit mit dem Bild des Todes. Ja, das war ich. Entsetzen kroch über mich hin, ich fröstelte und Grauen schüttelte mich, und meine Gedanken stammelten holprige Verse.
    Endlich schritt das grausige Gespenst langsam auf den Platz – zumindest nehme ich an, daß es etwas derartiges tat – ich meine, nun ja – also ich meine, ich selbst war vorübergehend von den immer heftiger anschwellenden Wogen des Entsetzens außer Gefecht gesetzt, und, na ja, ich weiß auch nicht so genau, aber ich muß ein paar Minuten an die Totzeit verloren haben – hab ich euch von der Totzeit erzählt? Ja? Nein? Also, ich hab wirklich ein wenig Zeit an mein anderes Ich verloren … Scheiße, lassen wir das – jedenfalls hatte ich, alarmiert von klirrendem Glas, mein Bewußtsein bald wieder unter Kontrolle, und fand mich hinter dem Trinkbrunnen wieder: den Tod, das Gespenst in der schmutzigen Decke, noch immer vor Augen.
    Und, nun ja – das bleiche Werkzeug der Hölle – das heißt, der Tod, der König des Schreckens – ja, dieses furchtbare, formlose, ja sogar fratzenlose Phantom, der Tod – ja, der Tod – also, der Tod war in den

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