Und die Eselin sah den Engel
Veranda standen, war in der Tat anzusehen, daß irgend etwas sich verändert hatte, oder eher, daß ihnen etwas abhanden gekommen war. Die lange winterliche Existenz während der Regenjahre hatte ihren einst strengen Gesichtern etwas genommen – das Warten hatte ihnen etwas abgewaschen. Etwas, das tief in den Herzen dieser frommen Seelen gewurzelt hatte, das aus ihren Augen geleuchtet hatte, war jetzt nicht mehr da. Die ruhige Ausstrahlung war verschwunden, desgleichen die Mienen innerer Zuversicht und Exklusivität; und auch der stille Glaube an ihr jenseitiges Schicksal färbte nicht mehr ihre Wangen.
Gott wohnte nicht mehr in ihnen.
Statt dessen zeigten ihre Gesichter alle Anzeichen von Resignation, Niederlage und Scham – eine Schlaffheit, die von der Schlaffheit ihrer Seelen kündete.
Während sie auf den Doktor warteten, sprachen sie untereinander, und ihre Stimmen, stumpf und überdrüssig, versanken im prasselnden Schütten und ihrer eigenen dumpfen Verwirrtheit.
»… in ’ner Windel und blau wie ’ne Pflaume!« sagte eine.
»’wäar ein Wundter, wenn’s überlepen tät …« hob Olga Holfe an, und Nena Holfe umpratzte mit monströsen Männerhänden ihre dicken zänkischen Brüste und fügte hinzu: »Und so ein kleines Dink.«
»Und in dem Mantel unseres Propheten! Unerhört!« schimpfte Wilma Eldridge.
»Und mit der heiligen Krone des Propheten auf dem kleinen Köpfchen«, schmückte Hilda Baxter aus, chronische Fabulistin von Geblüt.
»Quatsch!« spuckte die krüpplige Eldridge. »Völliger Quatsch! Heilige Krone, von wegen …«
Die Tür von Doc Morrows Praxis schwang auf, und den Frauen verschlug es die Sprache.
An der anderen Straßenseite saß Euchrid auf einer öffentlichen Bank. Er zog einen vollgelaufenen Stiefel vom Fuß und kippte ihn aus. Er zog den anderen Stiefel aus und tat desgleichen. Barfuß, die Stiefel neben sich auf der Bank, spähte er durch den tintigen Niederschlag nach der schwarzgewandeten Schwesternschaft, die da in einer dichten Traube vor der Praxis stand.
Euchrid sah die Praxistür aufschwingen und sah die Frauen, einmütig in ihrem jähen atemlosen Schweigen, einen ordentlichen Halbkreis um den Doktor bilden. In seinen Armen trug er ein Bündel, das in eine saubere weiße Decke gehüllt war, und mit breitem Lächeln schien er sein Publikum anzusprechen, wenngleich seine Worte, ertränkt vom Rauschen des Regens, nicht mehr bei Euchrid ankamen.
Unfähig seine Neugier zu bezähmen, stieg Euchrid in seine Stiefel zurück und überquerte behutsam die Straße. Er hörte die Gafferinnen in Jubel ausbrechen, und als er an die Veranda gelangte, bekam er noch ein wenig von der aus dem Gedränge tönenden Ansprache des Arztes mit.
»… es ist ein göttliches Wunder, daß sie noch lebt …« Entzücktes Gurren und Glucksen und spitze Freudenschreie drangen aus der Versammlung und übertönten den Rest seiner Worte.
Euchrid erstieg die Treppe und reckte den Hals, um zu sehen, was da soviel Aufmerksamkeit heischte. Wieder dröhnte die Stimme des Arztes: »… geht sachte mit ihr um … daß sie nicht aufwacht …«, und dann nahm Nena Holfe, die Augen unverwandt auf dem kleinen, aus dem Wickeltuch schimmernden rosa Gesichtchen, das Bündel von der Frau neben ihr, wiegte es sanft, summte leise, drehte sich gurrend um und drückte, ohne aufzublicken, das Baby in die Arme Euchrids des Stummen. Euchrid sah das Baby an, und das Baby sah Euchrid an.
Ein oder zwei Sekunden verstrichen in tödlichem Schweigen.
Und dann, als ihnen die Sache aufging, stieg ein einstimmiger Schreckensschrei von den Lippen der Frauen. Von Panik ergriffen, jonglierte Euchrid das Kindlein auf seinen Armen und konnte nicht weglaufen.
Und dann langte das Baby aus seinem wollenen Wickeltuch und grub einen winzigen Fingernagel in Euchrids Hals.
Mit einer fetten Tatze riß Hulga Vanders das Kind wieder an sich, während sie gleichzeitig ihren Schirm auf Euchrids Kopf krachen ließ. Nena und Olga Holfe folgten ihrem Beispiel und schlugen ihn mehrmals auf den Kopf, und gleich darauf fiel der ganze mit Schirmen und Stöcken bewaffnete Pulk über Euchrid her und ließ einen Hagel von Schlägen auf seinen eingebuckelten Körper niedergehen .
Endlich gelang es Euchrid, sich von seinen Angreiferinnen loszumachen und die Flucht zu ergreifen; er stolperte die Treppe hinunter in eine tiefe schlammige Pfütze und taumelte wie ein geprügelter Hund in den Regen und dann die Maine Road runter, während seine
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