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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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Wunderdinge, die ich gesammelt hatte – die dunklen Behälter aufgespeicherter Mysterien – uralte Insektenpanzer – zitternde gefiederte Sammlerstücke – jede Menge Kartons voller seltener und schrecklicher Geheimnisse – spröde Knochen und Schnäbel – eingefangene Geräusche – zerbrechliche Beutestücke – Wasser und Sekrete – Proben, die einem ganzen Leben entnommen waren – alles, was ich je gedacht oder getan hatte oder gewesen war, eingeschlossen unter Korken oder Deckeln oder Glas – alles, was ich gewesen war – das Gerippe, auf dem meine bleiche und elende Haut gehangen hatte – weg. Mein beschissenes Heim, mein ein und alles – weg. Mit dieser lüsternen Schändung meines Ich hatten mir diese Vandalen der Seele meine Vergangenheit weggenommen – meine Geschichte – und stattdessen einen Schatten hinterlassen. Eine leere Hülse.
    Als ich so, beobachtend und nachdenkend, auf diesem Hang saß, spürte ich, wie etwas Hartes und Dorniges in mir wuchs, eine Art Distel, die mich am Ende ganz ausfüllte und an die Stelle all dessen trat, was mir zerstört worden war, was Stiefel und Faust zerschlagen und zertrampelt hatten. Ich kauerte und zischte, und meine Hände pulsierten und schwollen und fühlten sich an, als hätte ich sie tief in ein Wespennest gesteckt. Ich blies sie an, aber mein Atem brannte. Wie Landkarten, wie schmerzende rote Brandzeichen bedeckten all die winzigen Schrammen und die größeren, älteren Narben meine Hände und Handgelenke.
    Ähnlich voller Blut schien mein Gehirn, denn in den schläfrigen untersten Höhlen meines Kopfs wurden giftige Gedanken wach und krochen hervor wie nach einem ewig langen Winterschlaf – Grubennattern, die nach rotem Fleisch lechzten. Ich schwitzte. Ich keuchte.
    In der Hoffnung, meine Stimmung zu heben, sah ich wieder nach den Feldern. Ich versuchte, aus dem Anblick ein wenig Vergnügen zu gewinnen – hundemüde Arbeiter, die sich mit harter zermürbender Feldarbeit abrackerten –, aber das ließ die Distel des Hasses nur noch üppiger gedeihen.
    »Arschlöcher«, dachte ich.
    Und dann ertappte ich mich bei dem Wunsch – bei dem Gebet –, daß die ohnehin schon höllenheiße Mittagssonne noch heißer brennen möge, bis die riesigen Felder noch ungeschnittenen Zuckerrohrs zu schwelen und rauchen begännen und die Haut der Arbeiter Blasen würfe; und wenn die Felder von der sengenden Sonne entflammt wären, würde sich das geröstete Fleisch Schicht um Schicht in nassen roten Streifen von ihren Armen und Beinen und Rücken und schreienden Gesichtern schälen, bis ihre schwarzgebackenen Knochen sich aus der papierenen Pelle bohrten und das Gewebe der Adern und die letzten zerrissenen Hautlappen zu einem Eimer voll Blut zerfetzten, und dann würden sie, diese zerbröckelnden Skelette, auseinanderrieseln … zu einem Fingerhut voll Asche … zu schreiendem Staub … zu einem verflucht toten Tod.
    Aus Furcht, ich selbst könnte derjenige sein, der in Flammen ausbräche, wenn ich weiter solch brandstifterische Gedanken hegte, wandte ich meinen Blick woanders hin.
    Ich sah über die Felder weg nach der Hauptstraße, wo eine Gruppe von rund dreißig Schulkindern sich am Rand des Feldes drängte, um sich aus erster Hand über die Zuckerindustrie des Tals unterrichten zu lassen.
    Bei ihnen befand sich eine Handvoll Erwachsener, unter denen ich sofort Miss Annapearl Wells erkannte, die stellvertretende Leiterin der Schule von Ukulore Valley, und zwar erkannte ich sie an ihrer grellweißen Haube – nicht unähnlich einer Nonnenhaube: Ohren und Hals verhüllend, vorne aber mit einer lächerlich hochgekrümmten Spitze, wie der Schnabel einer riesigen quakenden Ente.
    Obwohl ziemlich weit entfernt, identifizierte ich ebenso mühelos Mary Hanley; sie ragte mit Kopf und Schultern über ihren Mann hinaus, den ich an seinem flammendroten Haarschopf und der neuen und hell leuchtenden Armbinde erkannte. Mary Hanley stand unbeteiligt herum – ein Goliath unter den Erstklässlern –, während Miss Annapearl Wells, das zuckende Gesicht himbeerrot in der gestärkten Haube, ängstlich ihre Herde umflatterte und die Kinder hin und her scheuchte.
    Ein dicker Mann mit Hut, in der Hand ein Clipboard – zweifellos einer von der Fabrik –, schien Fragen zu beantworten, die ihm von den Kindern gestellt wurden. So völlig schwarz war meine Stimmung an diesem Tag, daß der Gedanke, durchs hohe Gras auf der anderen Seite der Straße zu schleichen und sie zu belauschen,

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