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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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mich nicht im geringsten vor Erregung zittern ließ. Ich saß einfach da und schaute, und nach einer Weile schaute ich zwar noch immer, doch ohne eigentlich etwas zu sehen, da meine vagabundierenden Gedanken sich nicht mehr in Zaum halten ließen.
    Irgendwann und irgendwie wanderte meine Aufmerksamkeit zu den zwei Blechschuppen, die man vor ein oder zwei Jahren auf Hooper’s Hill errichtet hatte, um dort Rohzucker und Raffinade bis zur Ablieferung nach Patterson einzulagern.
    Ich dachte an die Kübel mit Melasse, die da drinnen an den Wänden aufgereiht waren, und ich dachte an den dunklen, dicken, so süßen und klebrigen Sirup. Vor meinem inneren Auge entstand der kleine zuckerrosa Wohnwagen, der einmal auf diesem Hügel gestanden hatte, und im Sirup meiner Tagträumerei, der süßer war als eine Zuckerwasserquelle, beschwor ich ihr Bild herauf, die Haut wie Honig und die Knochen aus Zucker, und eine Zeitlang schwamm ich in ambrosischer Melasse und Phantasien von Cosey Mo, stieg die Honigwabe ihres Hügels zu ihrem kleinen rosa Honigtopf hinan – tauchte mit wonnig klopfendem Herzen meine Hände hinein – aber das Summen stammte nicht von Bienen, nein, sondern von Fliegen, denn jetzt trieb sie vor mir in einem Graben, das Gesicht mit den Wundmalen der geprügelten Hure bedeckt, die Augen blaugeschlagen, die Nase zertrümmert, keinen einzigen Zahn mehr im Mund, den Körper übersät mit den verschorften Kennzeichen des Hurentums, die Arme zerstochen von den Nadeln ihrer Sucht, die Brüste zerschunden und das Haar ganz spärlich – eine dreckige tote Hure in einem Straßengraben – denn hast du erst einmal eine Narbe im Gesicht oder im Herzen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dir die nächste zugefügt wird – und wieder die nächste – bis kein Tag mehr vergeht, an dem du nicht bewußtlos geprügelt wirst, und es keine Stadt mehr gibt, aus der du nicht vertrieben wurdest, und du so gottverdammt heruntergekommen bist, daß dir am Ende schier etwas fehlt, wenn du nicht grün und blau geschlagen wirst – und kaum ist ein Jahr vergangen nach diesem ersten vernichtenden Sturz, diesen ersten Fausthieben, dieser ersten Vertreibung, findest du dich, mit einem Fliegenschwarm um die Augen, noch toter als beim Weggang, in einer Kloake treibend genau am Ausgangspunkt wieder – eine dreckige totgeprügelte Hure in einem Straßengraben. Aber ein kleiner Teil von dir stirbt nicht. Ein kleiner Teil von dir lebt weiter. Und aus diesem verdorbenen und nichtswürdigen Teil machst du ein Waisenkind und legst es kurzerhand denen in den Schoß, die dir als erste deine Süße geraubt haben, denn es ist die böse Frucht ihrer Untaten, es ist ihr Blut, ihre Sünde, dorthin gehört es, dieses Kind des Blutes, diese Ausgeburt der Sünde …
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Beth leuchtete unter der blendenden Sonne grell aus dem Staub. Neben ihr stand ein kleiner glatzköpfiger Mann in dunklem Anzug und mühte sich, einen riesigen knallroten Sonnenschirm aufzumachen.
    Sie stand aufrecht und still. Ihr schneeweißer Kittel und die Krone goldener Locken leuchteten mit einer schamlosen Helligkeit, die mir die Augen verbrannte. Ich preßte sie zu. Ihr Gleißen zitterte in der Dunkelheit wie eine silberne, in Gold getauchte Flamme – ein heller Stern in meiner zeitweiligen Blindheit. Die schlangengleichen Locken fielen ihr über die Schultern und umgaben sie mit einer Aura – fast wie ein Heiligenschein – ein stilles Glänzen der Luft um die Seidenkrone ihres Haars. Und eins sag ich euch – wäre ich nicht auserwählt gewesen, als einziger Zeuge ihrer Ankunft im Tal beizuwohnen und dies eine Stückchen Wissen in meinem Herzen zu bergen – dann hätte ich ohne weiteres ihrer schimpflichen Täuschung auf den Leim gehen können.
    O strahlende Schwindlerin! O teuflische Betrügerin!
    Ich suchte wieder die Straße ab. Die Schulkinder waren weg – in ihre Klassenzimmer geschlurft, nehm ich an – und die Straße war leer, bis auf zwei winzige Gestalten: ein dunkler Fleck und ein heller Fleck, dazu der störrische rote Schirm. Und ich sah ihnen zu, wie sie an diesem ersten Tag der Erntesaison den Feldarbeitern zusahen.
    Mir fielen die Worte des Propheten Jesaja ein.
     
    Du aber komm her, du Kind der Zauberin,
    du Brut der Ehebrecherin und der Dirne!
    Über wen machst du dich lustig?
    Gegen wen reißt du den Mund auf und streckst die Zunge heraus?
    Bist du nicht ein Kind des Frevels, eine Lügenbrut?
     
    Und

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